© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Die Unkultur des Todes
Manfred Spieker bietet einen kritischen Überblick über brennende Fragen der modernen Medizin und ihre ethischen und rechtlichen Grenzen
Mechthild Löhr

Der akademische und ein wenig provokante Titel könnte leider manche Leser abschrecken. Vielleicht aber macht er auch neugierig, weil er Provokation und Aufklärung zugleich verspricht. Das neue Buch des bekannten Osnabrücker Professors für Christliche Gesellschaftslehre, Manfred Spieker, bietet eine informationsreiche Sammlung von Fakten, Beobachtungen und Analysen rund um brisante und kritische Themen, die heute im Bemühen, "politisch korrekt" zu sein, meistens verschwiegen werden. Spieker gelingt es damit, zu beweisen, daß das Menschrecht auf Leben, das zu schützen die unmittelbarste und zentrale Pflicht und Aufgabe jedes Staates ist, in den heutigen europäischen Staaten einschließlich Deutschlands in seiner Uneingeschränktheit elementar gefährdet ist. Wie aber verläuft die Beweisführung seiner Grundthese?

Zunächst beschreibt Spieker sogenannte "Tarnkappen", unter denen die "Verschleierung der Aufhebung des Tötungsverbotes" erfolgt. Schon hier ist erkennbar, daß Spieker seinerseits eine schonungslose "Entschleierung" nicht scheut. Die Illegitimität von Abtreibungen werde durch Sozialhilfe getarnt und die Euthanasie als medizinische Dienstleistung verkauft. So deutlich wird an den deutschen Lehrstühlen nur ausnahmsweise Klartext geredet oder geschrieben. Spieker beschreibt kenntnisreich die Geschichte der Abtreibungslegalisierung in Deutschland während der letzten dreißig Jahre, was begreifen läßt, warum durch den flächendeckenden, staatlich geförderten Einsatz von "Pro Familia" und anderer Abtreibungen für viele junge Menschen ähnlich relevant geworden sind wie ein unangenehmer Zahnarztbesuch, der einfach auch mal sein muß und eigentlich gar nicht schlimm ist. Neben vielen Daten und empirischem Material wird das ganze Ausmaß der Abtreibungsrealität in unserem Land ungeschminkt ausgeleuchtet. Die präsentierten Zahlen lassen auf bis zu acht Millionen Abtreibungen in Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre schließen. Auch das faktische Scheitern des 1993 eingeführten Beratungskonzeptes ist nüchtern beschrieben und analysiert. Spieker macht deutlich, wie stark sich der Staat als finanzieller Förderer von Abtreibungen sozialpolitisch und ethisch disqualifiziert hat, da diese zu etwa neunzig Prozent inzwischen aus Steuermitteln bezahlt werden. Wie kann sich ein Staat, dessen zentrale Aufgabe der Schutz jedes menschlichen Lebens ist, aktiv an einer überaus abtreibungsfreundlichen Entwicklung beteiligen, ohne sich selbst als Rechtsstaat zu verleugnen? Wenn also hier unzweifelhaft das Tötungsverbot substantiell aus den Angeln gehoben wurde, wie soll es dann, in anderen kritischen Lebensphasen uneingeschränkt verteidigt werden? Wenn, so Spieker, das Recht der Frau auf Selbstbestimmung absolut gesetzt, und das Lebensrecht des Kindes diesem ungeprüft untergeordnet wird, dann ist der nächste Schritt zum selbstbestimmten Tod nicht weit. Deshalb bildet neben der zentralen aktuellen Frage der hohen Abtreibungszahlen die seit Jahren immer drängender werdende europäische Euthanasie- und Sterbehilfediskussion einen zweiten Themenschwerpunkt seines Buches.

Unter Berücksichtigung der Erfahrungen in den Niederlanden und in Belgien und der Auseinandersetzung im Europarat zeigt Spieker interessante Parallelen auf, die zwischen den Argumentationen der Abtreibungs- und Sterbehilfebefürworter zu beobachten sind. Wie sehen diese Parallelen aus? Zunächst wird meist das Recht auf autonome Selbstbestimmung zum Kern der Menschenwürde deklariert, obwohl offensichtlich keine einzige menschliche Existenz wirklich je mit Selbstbestimmung begonnen hat und nur wenige so - das heißt durch Suizid - enden. Dann folgt meistens das Argument, Abtreibung oder Euthanasie würde ohnehin überall schon reichlich praktiziert. Das Recht müsse nun endlich der Realität angepaßt werden, was durchaus in gewissen Rechtsbereichen unter der schönen Überschrift "Gewohnheitsrecht" Tradition hat. Aber bei elementaren Grundrechten wie Leben, Eigentum oder Freiheit würde die Umsetzung dieses puren Rechtspositivismus allerdings konsequenterweise zur absurden Selbstauflösung des Rechtsstaates in einen bloßen "Gewohnheitsrechtsstaat" auf niedrigstem Niveau führen. Steuerhinterziehungen und Schwarzarbeit wären beispielsweise nach dieser Argumentationslinie längst geltende Rechtslage. Um wieviel weniger darf der Rechtsstaat dann beim Schutz elementarer Menschenrechte wechselnden Mehrheitsempfindungen folgen.

Dies gilt auch bei einem dritten gewichtigen Argument, nämlich daß keiner einem kranken Menschen die Pflicht auferlegen darf, das Leben fortzusetzen. Auch hier zeigt Spieker am Beispiel der Zulassung von Spätabtreibungen, daß es mehr und mehr Fälle gibt, in denen schon geringfügigere Behinderungen des Ungeborenen heute zur Abtreibung bis in den 9. Monat hinein führen. Wer schon im Mutterleib als vermutlich schwerkrank diagnostiziert wird, hat heute oft nur noch eine geringe Überlebenschance. Diese Relativierung des Lebensschutzes durch die Kriterien Lebensqualität und zukünftiges Selbstbestimmungsvermögen wird in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien inzwischen analog auf Kranke und Sterbende angewandt. So genügen in Holland zum Beispiel die Diagnose einer Krankheit oder schwere nachhaltige Depressionen, um unabhängig vom Alter in den Genuß der medizinischen "Dienstleistung" der Euthanasie - dort heißt sie auch noch so - zu kommen. Diese ist aktuell gerade auch auf schwerstkranke Säuglinge ausgeweitet worden, die, sofern die Eltern sich überfordert fühlen, auch mit ärztlichem Beistand legal getötet werden können.

Ist es angesichts dieser wenigen Beispiele, von denen das Buch etliche dokumentiert, noch wirklich erstaunlich oder nur polemisch, wenn Spieker von der heraufziehenden Kultur des Todes in Europa schreibt? Da auch weitere, brisante bioethische Themen wie Invitrofertilisation IVF und die Präimplantationsdiagnostik (PID) kurz behandelt werden, erhält der Leser einen kompetenten und kritischen Überblick über brennende Fragen der modernen Medizin und ihre ethischen und rechtlichen Grenzen. Der Mensch, so die christlich geprägte scharfe Mahnung des Autors, darf zu keinem Zeitpunkt Produkt oder Eigentum anderer sein. Der Selbstzweck und Selbstwert jeder einzelnen Person bindet in jeder Lebensphase auch den Rechtsstaat, wenn dieser nicht selbst einer "posthumanen Zukunft" (Francis Fukuyama) zum Opfer fallen soll.

 

Mechthild Löhr ist Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) in der CDU.

Manfred Spieker: Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2006, 216 Seiten, kartoniert, 19,90 Euro


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