© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Für Scheingefechte keine Zeit
Einwanderung: Debatte um Integrationspolitik / Parallelgesellschaften entwickeln sich zu aggressiven Gegengesellschaften
Doris Neujahr

In der deutschen Presse findet eine heftige Debatte zur Integrationspolitik statt, die zur Hälfte eine Scheindebatte ist. Ausgelöst wurde sie durch einen Offenen Brief in der Zeit vom 2. Februar, den zwei "Migrationsexperten" verfaßt haben, der Psychologe und frühere Spex-Redakteur Mark Terkessidis aus Köln sowie Yasemin Karakasoglu, Professorin an der Universität Bremen, Fachgebiet Interkulturelle Bildung. Weitere 60 "deutsche Migrationsforscher" haben sich angeschlossen.

In Deutschland, so der Tenor des Schreibens, würden drei Autorinnen eine Aufmerksamkeit genießen, die sie nicht verdient hätten, die sogar gefährlich sei. Es handelt sich um die Soziologin Necla Kelek ("Die fremde Braut"), die niederländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali ("Ich klage an") und die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates ("Große Reise ins Feuer"). Alle drei Frauen stammen aus islamischen Ländern und leben seit langem im Westen. Hirsi Ali wird von der Fatwa bedroht, Ates hat nur knapp einen Mordanschlag von Fanatikern überlebt.

Ihre Bücher werfen einen kritischen Blick auf sogenannte Parallelgesellschaften, die längst dabei sind, sich zu aggressiven Gegengesellschaften zu entwickeln. Es handele sich aber, verbreitet der Offene Brief, nur "um reißerische Pamphlete, in denen eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden". Besonders empört es Verfasser und Unterzeichner, daß die Autorinnen die "‚Integration' in die deutsche, sprich westliche Gesellschaft" empfehlen. Außerdem würde mißachtet, daß sich in Deutschland "eine quantitativ und qualitativ empirische Migrationsforschung entwickelt, die international anschluß- und konkurrenzfähig" sei. Die natürlich von den Unterzeichnern vertreten wird.

Kelek wird vorgeworfen, heute zu ganz anderen Schlußfolgerungen zu kommen als noch in ihrer Dissertation vor drei Jahren. Könnte das nicht auch mit der Stickluft, fehlenden Forschungsfreiheit und den Denkverboten an deutschen Universitäten zusammenhängen? Kelek jedenfalls hat erwidert, es habe ihren Gegnern ja freigestanden, ebenfalls die Fragen zu stellen, die sie nun aufgeworfen hat. Sie paßten aber nicht in die Ideologie des Multikulturalismus.

Wem verdankt sich die Resonanz für Kelek, Hirsi Ali und Ates? Einer rechten Verschwörung? Eine lächerliche Annahme. Es ist viel einfacher: Der Mord an Theo van Gogh, die Krawalle in Paris, der Karikaturenstreit und besorgniserregende Entwicklungen im Alltag unserer Städte haben wie ein Weckruf gewirkt. Nichts davon hatte die etablierte, von Rot-Grün gehätschelte "Migrationsforschung" reflektiert und antizipiert. Sie hat sich als irrelevant erwiesen und zittert nun vor Angst, daß sich das herumspricht und ihr der Geldhahn abgedreht wird.

Der Brief transportiert einen impliziten Rassismus-Vorwurf gegen die deutsche Gesellschaft. Wes Geistes Kind seine Unterzeichner sind, zeigt ihre Bemerkung über die Zwangsehe. Sie sei "das Ergebnis der Abschottungspolitik Europas gegenüber geregelter Einwanderung. Wenn es keine transparenten Möglichkeiten zur Einwanderung gibt, nutzen die Ausreisewilligen eben Schlupflöcher. Das ist ein politisches und kein moralisches Problem." Den letzten Satz greifen wir gerne auf. Ohnehin wird auf diesem Gebiet zuviel moralisiert. Politisch betrachtet, kann von einer Verpflichtung, für Ausreisewillige aus dem islamischen Kulturkreis "Möglichkeiten zur Einwanderung" nach Europa zu schaffen, überhaupt nicht die Rede sein. Diese "Pflicht" erscheint erst innerhalb eines apolitischen Moraldiskurses plausibel, womit die Argumentation in sich zusammenfällt. Was würde eine "geregelte Einwanderung" überhaupt bedeuten? Der deutsche Staat müßte prüfen, ob, in welchem Maße und welcher Qualität er Zuwanderer benötigt. Dann müßte er von den Bewerbern Sprachkenntnisse Führungszeugnisse sowie Nachweise über Arbeit, Versicherung und Wohnung verlangen. Zu dieser rationalen Einwanderungspolitik hat Deutschland aber nie die Gelegenheit gehabt.

Diese Tatsache, und nicht ein grassierender "Rassismus", ist der Grund dafür, daß Deutschland sich mit der Zuwanderung so schwertut. Häufig wird darauf verwiesen, daß Deutschland sie mit dem Ruf nach Gastarbeitern ja selbst in Gang gesetzt habe. Jedoch wolle man bis heute nicht wahrhaben, daß mit den Arbeitskräften eben auch Menschen gekommen seien. Nun, die Anwerbung wurde bereits 1973 gestoppt, erst danach nahm der Zustrom dramatische Ausmaße an. Im übrigen ist die deutsche und ökonomische Binnenperspektive viel zu eng, um die Entwicklung zu erfassen. Es haben auch außenpolitische und militärstrategische Überlegungen eine Rolle gespielt, auf die Deutschland nur einen begrenzten Einfluß hatte, für deren Folgen es aber aufkommen mußte. Nehmen wir die Türkei, aus der seit den frühen sechziger Jahren die meisten "Migranten" kommen.

Das Land war damals innenpolitisch äußerst labil, es gab Militärrevolten, Putschversuche, Regierungskrisen. 1963 wurde ein Fünf-Jahrplan zur Konsolidierung der Staatsfinanzen, zur Steigerung des Exports und Schuldenabdeckung verabschiedet. 1964 brach auf Zypern ein Bürgerkrieg aus, die Türkei intervenierte. Weil die Türken mit der Haltung des Westens unzufrieden waren, begannen sie, sich der Sowjetunion anzunähern - eine Katastrophe. Der Nato-Partner mußte stabilisiert werden. Der Export überschüssiger Arbeitskräfte und die Armutswanderung nach Deutschland entspannte die innenpolitische Lage.

In diesem Zusammenhang ist auch das ungewöhnlich großzügige Sozialabkommen von 1965 zu sehen, durch das die Großfamilien türkischer Arbeitnehmer in Deutschland mitversichert sind. Geht man wirklich fehl mit der Vermutung, daß der souveräne Entscheidungsspielraum Deutschlands in dieser Frage minimal gewesen ist? Die wichtigste Schleuse für den Asylbewerber war West-Berlin, die zu schließen ebenfalls nicht in der deutschen Souveränität lag. Der Zustrom von Arabern ab den frühen achtziger Jahren war eine direkte Folge des arabisch-israelischen Konflikts - für Deutschland eine besonders delikate Angelegenheit. Vom Asylmißbrauch vor und nach 1990 und dem ohrenbetäubenden Geheule der linksliberalen Medienmacht ganz zu schweigen.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Zuwanderung zu einem großen Teil auf Grundlage der eingeschränkten Souveränität Deutschlands, damit aber als eine Perpetuierung der deutschen Niederlage und als fortgesetzte kollektive Kränkung stattfand. Erst wenn dieser Zusammenhang realisiert wird, kann man mit einer rationalen Argumentation und Politik beginnen. Für Scheingefechte ist keine Zeit mehr.

Foto: Ayaan Hirsi Ali, Seyran Ates, Necla Kelek (v. l.): Der Mord an Theo van Gogh, die Krawalle in Paris, der Karikaturenstreit und besorgniserregende Entwicklungen im Alltag haben als Weckruf gewirkt


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