© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

Dogma und Wissenschaft
Geschichte bleibt Urteil
Peter Lebitsch

Kann man Geschichte "wissenschaftlich" untersuchen? Jörg Baberowski, Historiker an der Humboldt-Universität, verneint diese Frage resolut. Auch die methodisch beste Quellendarstellung mache historische Ereignisse nicht versteh­bar. Stets unterliegen sie "neuen Deutungen". Jede Quelle spreche nur "zu den Bedin­gungen des Historikers", der gemäß aktuellen "Bedürfnis­sen" interpretiere.

Leopold von Ranke wollte die Vergangenheit objektiv wiedergeben, doch sei er gescheitert. Historische Tatsachen "richtig" verknüpfen? Unmöglich! Keine Rea­lität existiere unabhängig vom Bewußtsein. Wenn aber die Geschichte spiegelt, was der Affe sehen will, wozu braucht man sie dann? Historiker erfinden "Mythen", deuten "Symbole", die dem "menschlichen Leben einen Halt geben", beschreiben aber nicht Tatsa­chen. "Fehler und 'Irrtümer' der Ver­gangen­heit wohnen nur in unseren Köpfen. Es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt, sie auszulegen." Sofern Histori­ker Werturteile formulieren, bestreitet das niemand. Indes postulierte die Aufklärung, logi­sche Tatsachenanalyse und Wertung zu trennen. Baberowski lehnt diese Möglichkeit ab und re­animiert vorwissenschaftliche Standpunkte.

Der Autor zitiert kaum Fachhistoriker, sondern bemüht Hegel, Marx, Dilthey, Heidegger, Gada­mer, Foucault. Philosophie und Theolo­gie ähneln einander wie siamesische Zwillinge. Hegel und andere Dogmatiker kostümierten uralte Mythen, ver­schmolzen Subjekt und Ob­jekt, zwar auf unterschiedliche Art, immer jedoch speku­lativ. Bereits Kant mißachtete die dingliche Welt als fremdartigen Schatten. Jene ver­hängnisvolle Weichenstellung setzten Hegel und Heidegger fort, indem sie alles "Reale" endgültig zu on­tologischen oder transzen­dentalen Beg­riffen zerstäubten.

Der Historiker, schreibt Baberowski, entrinne nie "zeitlicher und kultureller Gebundenheit", und daher sei es nicht zu bedauern, wenn die "Quel­len kein vollständiges Bild vom Gesche­hen geben". Folgt man seiner Logik, erübrigt sich der Gang ins Archiv. Welche Wohltat, die Geschichte ohne philosophischen Ballast zu betrachten, ganz unbefangen.

Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, C.H. Beck Verlag, München 2005, 250 Seiten, 12, 80 Euro


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