© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

Lesefrüchte in Klarsichthüllen
Ewald Grothe referiert in seiner Habilitationsschrift zur deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung
Reiner Finck

Ewald Grothes Habilitationsschrift zur Geschichte der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert beginnt mit einer nicht enden wollenden Danksagung an Helfer und Freunde. Die läßt Grothe gleich in Kohorten aufmarschieren, so daß der Leser sich etwas perplex fragt, ob ihn in diesem 500-Seiten-Opus auch etwas erwartet, was ganz ausschließlich vom Verfasser selbst stammen könnte - außer Danksagung und Register.

Um die enttäuschende Antwort vorwegzunehmen: Grothe ist tatsächlich nicht der Typus des Selbstdenkers, sondern mehr ein Referent, der seine Lesefrüchte wie ein Klarsichthüllenverwalter sammelt, sortiert und dann nacherzählend ausbreitet. Ein Strukturierungsprinzip außerhalb von Alphabet und Chronologie ist nicht erkennbar.

Also beginnt Grothe pünktlich mit der Wende zum 20. Jahrhundert und befaßt sich mit dem preußischen Verfassungshistoriker Otto Hintze (1861-1940). Da Hintze in den letzten zwanzig Jahren vom Außenseiter der Fachhistorie zu deren Liebling avancierte, da die späte Ehe des Hohenzollern-Historiographen mit seiner linksliberalen jüdischen Schülerin Hedwig Guggenheimer das Interesse an seiner Person zeitgeistkonform noch zusätzlich steigerte, ist es um die Hintze-Forschung nicht eben schlecht bestellt.

Für Grothe bleibt also wenig mehr zu tun, als zu kompilieren. Als Quintessenz dieses Kapitels dürfte man darum nach Hause tragen, was ohnehin jeder mit Hintzes Namen verbindet: nämlich die Einsicht, daß Staatenbildung und Verfassungsentwicklung aufeinander bezogen sind und daher äußere, geopolitische Bedingungen die innere Konstitution determinieren. Für Preußens Geschichte leitete Hintze daraus ab, daß dieser Staat, umgeben von vielen Feinden und ohne natürliche Grenzen, sich nur ein begrenztes Maß an "Liberalität" leisten durfte, anders als das insulare England, das keine geschriebene Verfassung, kein stehendes Heer und nicht einmal ein Melderegister nötig hatte.

Daß Hintze um 1900 einen innovativen, weil interdisziplinären, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte integrierenden Typus von Verfassungsgeschichte inaugurierte, ist hinlänglich bekannt. Der Vergleich mit dem zeitgenössischen "Gegentypus" Georg von Below, einem Institutionenhistoriker, oder Rechtshistorikern wie Ernst Mayer, Staatsrechtlern wie Richard Schmidt mag zwar illustrativ wirken, neue Einsichten vermittelt er nicht. Ebensowenig wie der Übergang von Hintze zu Fritz Hartung, dessen Arbeiten, wie Grothe hervorhebt, "methodisch verengt, national begrenzt und disziplinär befangen" blieben, weil er gesellschaftliche und wirtschaftliche, geographische und psychologische Faktoren der Verfassungsentwicklung zu wenig beachtete.

Hartung und Hintze samt Ehefrau Hedwig begegnen uns wieder im Kapitel über die Weimarer Republik. Grothe fällt auf, daß Hintze sich zur Universalgeschichte wendet, Preußen trete in den Schatten, der "Staat" werde nüchterner als "Betrieb", als "Standortfaktor" verstanden. Aber die Hintze-Forschung hat alles, womit sich der Berliner Historiker in den zwanziger Jahren beschäftigte, seine in Abhandlungen und Rezensionsessays niedergelegten Versuche zur Typologie der Verfassungsformen und zum "Wesen" des modernen Staates, wieder und wieder beleuchtet, so daß Grothe, in Verlegenheit um eine eigene Perspektive, erneut sein Heil im Referat suchen muß.

Nachdem das erledigt ist, löst er sich mit der NS-Machtergreifung aus Hintzes Bann. Sein neuer Held heißt Ernst-Rudolf Huber. Auch der ist kein Unbekannter. In jeder Universitätsbibliothek stehen seine acht Bände "Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789", die Huber in der zweiten Hälfte seines langen Lebens (1903-1991) verfaßte, unter Assistenz seiner Söhne, zu denen der derzeitige protestantische Oberhirte Wolfgang Huber zählt.

Aber dieses Mammutwerk hat natürlich "braune" Wurzeln. Denn nach 1933 kam es zur "Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte in der Rechtswissenschaft". So begann auch der junge Staatsrechtler Huber damit, sich intensiv mit dieser Materie zu befassen. Auf die naheliegende Erklärung aber kommt Grothe nicht, die auch prüfungsrelevante NS-Aufwertung der Verfassungsgeschichte könnte etwas damit zu tun haben, daß den Staatsrechtlern im "Maßnahmestaat", den der "Führerbefehl" regiert, auf ureigenem Terrain die Arbeit ausging.

Daß Huber, Forsthoff, ja auch Carl Schmitt, in die Geschichte auswichen, weil es keine Verfassung mehr gab, die sie hätten auslegen können, hatte selbstverständlich den Effekt, daß die Rechtswissenschaft insgesamt in "ihren Grundfesten politisiert und historisiert" wurde. Verfassungsgeschichte öffnete das Tor, um im juristischen Grundstudium auch andere NS-Ideologeme unterzubringen. Zwischen den historischen und den "völkischen" Grundlagen des Faches verschwammen die Grenzen. Folglich nahm der Nationalsozialismus die Verfassungshistoriker "erinnerungspolitisch" in die Pflicht, "Legitimierungsfunktion und Instrumentalisierung" des Faches waren zwei Seiten einer Medaille. Nur sind auch das Erkenntnisse, die bald nach 1968 schon in der Kritischen Justiz nachzulesen waren. Damals verwechselte man allerdings nicht den Strafrechtler Fritz mit seinem staatsrechtlichen Bruder Ernst von Hippel, und man versetzte auch nicht postum den Leipziger Schmitt-Freund Erwin Jacobi nach Münster, wie Grothe das nun tut.

Ewald Grothe: Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtesschreibung 1900-1970, R. Oldenbourg Verlag, München 2005, 486 Seiten, gebunden, 64,80 Euro

Foto: Gottesdienst anläßlich des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland im Berliner Dom am 24. Mai 1999: Staatenbildung und Verfassungsentwicklung sind aufeinander bezogen


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