© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

In den Orkus mit dem ganzen Zauber!
Rechtschreibreform: Die Kultusministerkonferenz will das nächste orthographische Provisorium amtlich machen
Thorsten Thaler

Operation mißlungen, Patient tot. Auf diese Kurzformel läßt sich der Beschluß der Kultusministerkonferenz (KMK) bringen, den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung zu folgen. Erwartungsgemäß stimmte die KMK vergangenen Donnerstag in Berlin einmütig den vom Rat vorgeschlagenen Korrekturen an der seit Jahren heftig umstrittenen Rechtschreibreform zu. Die Änderungen betreffen besonders strittige Teile der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Groß- und Kleinschreibung, der Zeichensetzung sowie der Silbentrennung.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung war von den Kultusministern als Konsequenz aus der anhaltenden Kritik an der bereits im August 1998 an den Schulen eingeführten Reform eingesetzt worden (die JF berichtete mehrfach). Unter dem Vorsitz des ehemaligen bayerischen Kultusministers Hans Zehetmaier (CSU) und mehrheitlich besetzt mit "Urhebern und Nutznießern" der Rechtschreibreform, so der Schriftleiter der Deutschen Sprachwelt, Thomas Paulwitz, in dieser Zeitung (JF 9/05), hatte er seine Arbeit im Dezember 2004 aufgenommen. Am Montag voriger Woche hatte er dann der KMK seine Änderungsvorschläge unterbreitet.

Die Kultusministerkonferenz sprach von einer "guten und tragfähigen Grundlage" für die Fortentwicklung der Rechtschreibung. In einer Erklärung äußerten die Minister ihre Hoffnung, daß auch "die bisher kritisch eingestellten Teile der Öffentlichkeit" die Neuregelungen als "Konsensangebot verstehen und die jetzt gültigen Regeln und Schreibweisen übernehmen".

Umgesetzt werden soll das neue Regelwerk mit Beginn des nächsten Schuljahres 2006/2007 ab dem 1. August - sofern die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am 30. März den KMK-Beschluß absegnet. Nachdem die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Bayern, in denen die Reform bislang ausgesetzt war, ihr Einlenken bereits signalisiert haben, bestehen an der Zustimmung der Regierungschefs jedoch kaum noch Zweifel.

Für Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ist das Verfahren "ein famoses Beispiel dafür, wie mühsam die Politik gelegentlich Lösungen für Probleme sucht, die sie selbst ohne Not geschaffen hat". Er glaube nicht, daß mit der Entscheidung der Kultusminister die Debatte über die Rechtschreibung endgültig vom Tisch sei, sagte Lammert dem 3sat-Fernsehmagazin "Kulturzeit".

Vor dem Treffen der Kultusminister hatten die Kritiker der unseligen Rechtschreibreform noch einmal gekämpft wie die Löwen. Einer ihrer prominentesten Wortführer, der Sprachwissenschaftler Theodor Ickler, trat aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung aus und erklärte: "Das Herumsitzen in Gremien zweifelhaftester Zusammensetzung mit dem Zweck, an der Sprache von 100 Millionen Menschen herumzubasteln oder vielmehr an dem leichtfertigen Anschlag auf diese Sprache, ist grotesk." Warum, fragte Ickler in einem Beitrag für die FAZ, "treten wir das Ganze nicht wirklich in den Müll und vergessen es so schnell wie möglich?" Tja. Gute Frage. Die nächste bitte.

"Was also hindert, den ganzen Zauber dahin zu expedieren, wo er hingehört, in den Orkus nämlich"? fragt prompt Althistoriker Christian Meier, der von 1996 bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt war. Und er antwortet mit der letzten Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, der brandenburgischen CDU-Politikerin Johanna Wanka, die mit Blick auf die Rechtschreibreform zu der späten Erkenntnis gelangte: "Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden."

Gelten lassen will Meier das Wort von der "Staatsräson" freilich nicht. Die könne nicht darin bestehen, daß sechzehn Kultusminister sich mit dem Staat verwechseln, schreibt er zwei Tage nach Ickler ebenfalls in der FAZ den Politikern ins Stammbuch. Die Staatsräson fordere keineswegs, so Meier, "daß sie die Mehrheit des Volkes für dumm verkaufen". Den wahren Grund, warum die Politik nicht umsteuert, sieht er ganz woanders: "Wahrscheinlich liegt man nicht falsch mit der Vermutung, die Kultusminister glaubten, das Staatswohl verlange, daß keine Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkämen. Sie fürchten die Blamage, wenn sie die ganze Aktion abblasen, und sei es, indem sie eine wirklich gründliche Reform der Reform zuließen."

Als wollte er Meiers Vermutung vorauseilend unterstreichen, meldete sich der saarländische Bildungsminister Jürgen Schreier (CDU) zu Wort und appellierte an die Zeitungen, die bislang nicht oder jedenfalls nicht komplett auf die neue Rechtschreibung umstellen wollten. "Nun müssen sie aber Verantwortung übernehmen und den Empfehlungen des Rechtsschreibrats zur neuen Rechtschreibung folgen." Die Süddeutsche Zeitung leitete ihren Beitrag dazu vorvergangenen Montag mit dem schönen Merksatz ein: "Als wahrhaft unbelehrbar erweist sich die Politik."

Weiter vermerkte das Blatt aus München, das die Reform größtenteils nachvollzogen hat: "Genauso willkürlich, wie die Politik damit begonnen hat, die Rechtschreibung zu verändern, so willkürlich bricht sie ihr Herumbasteln an der deutschen Sprache jetzt wieder ab - und jedesmal kommt sie daher, breitbeinig und mit aufgeblasenen Backen, und verlangt den Respekt der Bevölkerung oder der Zeitungen". Die Politik sei nicht gezwungen gewesen, in die Orthographie einzugreifen. "Daß sie es trotzdem tat, war eine Anmaßung, ein Übergriff ins Unmögliche, und der Schaden, der sprachliche wie der volkswirtschaftliche, den die Politik durch diesen Übergriff verursachte, war und ist immens."

Kritik kam auch von der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS), deren Beirat Rechtschreibreformgegner wie die Schriftsteller Walter Kempowski, Reiner Kunze, Sten Nadolny, Albert von Schirnding und Adolf Muschg, der Verleger Michael Klett sowie Wissenschaftler wie Dieter Borchmeyer (Heidelberg) und Theodor Ickler (Erlangen) angehören. Den vom Rechtschreibrat empfohlenen Korrekturen bescheinigte der FDS "schwere Mängel". Die Revision laufe auf eine weitere provisorische Orthographie hinaus, die wegen dieser Mängel nicht von Dauer sei könne. Die Einheitlichkeit der deutschen Sprache könne schon deshalb nicht wiedererlangt werden, weil die Einführung unzähliger neuer Schreibvarianten vorgesehen sei, erklärte FDS-Geschäftsführer Jan-Martin Wagner.

"Weite Teile der Reformregeln bleiben strittig, was sich allein aus ihrem unterschiedlichen Gebrauch erweist", monierte der Deutsche Elternverein (DEV) in einem Offenen Brief an die Kultusminister und Ministerpräsidenten der Länder, den der Vereinsvorsitzende Ulrich G. Kliegis am Mittwoch voriger Woche in Kiel vorstellte. Der Deutsche Elternverein ist die Dachorganisation der Landeselternvereine in den Bundesländern, nicht zu verwechseln mit dem Bundeselternrat (BER), der sich zufrieden über die Neuregelungen zeigte. Der Elternrat appellierte an die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die Entscheidung ihrer Kultusminister abzusegnen.

Dagegen erklärte der DEV, Schüler fänden sich nicht mehr zurecht, und auch Lehrer könnten heute in strittigen Feldern keine unstrittig richtige Schreibweise festlegen, da verbindliche, einheitliche und fehlerfreie Wörterverzeichnisse nicht mehr verfügbar sind. In dieser Situation mute es "geradezu absurd" an, so der Elternverein weiter, "daß den Schülern die einzige wirklich anerkannte, bewährte Schreibweise, nämlich die der allgemein üblichen Rechtschreibung ohne Reform-Veränderungen, die nach wie vor von der ganz überwiegenden Mehrheit der deutsch Schreibenden angewandt wird, in der Schule als fehlerhaft angekreidet wird".

Der Deutsche Elternverein plädierte dafür, an den Schulen wieder die klassische Rechtschreibung zuzulassen. Alle Erlasse, die dem entgegenstehen, sollten zurückgezogen werden.

Am Ende jedoch blieben alle diese Appelle und Einsprüche fruchtlos. Die Einheit der deutschen Schriftsprache, eine auf Konrad Duden (1829-1911) und dessen Grundlagenwerk "Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" zurückgehende Errungenschaft, scheint unwiderruflich perdu. So wird man hierzulande laut amtlichem Regelwerk auch künftig "hier zu Lande" schreiben müssen, ebenso wie "Hand voll" oder - ganz neu kreiert - "leidtun", was einfach nur "gräulich" ist. Ganz zu schweigen von weiterhin erlaubten sinnwidrigen Worttrennungen wie "Subs-tanz".

Vielleicht müssen sich die Liebhaber der deutschen Schriftsprache mit Heinrich Heine begnügen, von dem sie einen Vierzeiler aus dem "Buch der Lieder" unter dem Abschnitt "Junge Leiden" borgen könnten: Anfangs wollt' ich fast verzagen / und ich glaubt', ich trüg' es nie; / und ich hab' es doch getragen, - / aber fragt mich nur nicht: wie?


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