© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

CD: Klassik
Lang Lang
Jens Knorr

Die Frage nach der Tiefe ist eine zutiefst deutsche Frage. Also sei sie gelegentlich der Interpretation europäischer klassischer Klaviermusik durch den chinesischen Pianisten Lang Lang gestellt. Wenn auch in jüngster Zeit einiger Mätzchen und Manierismen auf dem Podium wegen leicht in Verruf geraten, bleibt sein Rang als Ausnahmepianist, den er sich spätestens bei seinem Debüt am 1. November 2003 in der Carnegie Hall erspielte, unangefochten.

Aber bereits das Konzert des damals 21jährigen war nicht frei von Gefallsucht, die sich der offenen Komplizenschaft eines Publikums versichern durfte, das genau die Vorstellung von den interpretierten Stücken vermittelt bekommen möchte, die es eigentlich immer schon hatte (Deutsche Grammophon 474 875-2). Das scheint bei Robert Schumanns herzensbrecherischen "Variationen über den Namen Abegg" und bei Franz Liszts fingerbrecherischen "Réminiscences du 'Don Juan' de Mozart" so gut abzugehen wie bei den unvermeidlichen Zugaben, Schumanns "Träumerei" und Liszts "Liebestraum", dem drittem der Notturnos von 1850.

Was er auch angeht, es klingt einen dünnen Film zu dick aufgetragen. Lang Lang zerdehnt die Tempi, daß nur mehr die Stimmung einer Stimmung bleibt, und schlägt die Piani so unhörbar an, daß sich der Hörer nicht sicher sein kann, ob der erwartete Ton denn auch wirklich erklungen ist oder nur in seiner Phantasie, dann wieder accellerandiert und crescendiert Lang Lang, als gelte es, den ekstatischen Höhepunkt eines schlüpfriges B-Movies mit Musik zu unterlegen. Er verliert sich in der atemberaubenden Melodik von Frédéric Chopins Nocturne Des-Dur op. 27 Nr. 2 und unterschlägt jenes erste in cis-Moll, von Iwaszkiewicz als "Betrachtung über das Vaterland" apostrophiert, zu dem dieses das "Nachpoem" darstellt. Er führt die "Träumerei" eher als harmonisch delikat unterlegten Einfall denn als strengen vierstimmigen Satz vor. Ahnungsvoll hatte der Komponist die erste Interpretin, seine Frau Clara, aufgefordert, beim Spiel die Virtuosin zu vergessen.

Lang Lang fliegen die extremen Ausdruckscharaktere nur so zu, aber ohne daß sie der Sache, um die es geht, den Kompositionen, plausibel zuzuordnen wären. Das geht bei Haydn und Schubert nicht gut ab. Den Mittelsatz von Haydns Klaviersonate in C-Dur Hob. XVI:50, ein Adagio, stellt Lang Lang als einen Fremdkörper aus dem folgenden Jahrhundert beziehungslos zwischen die beiden Ecksätze. Den zweiten Satz von Schuberts Fantasie in C-Dur op. 15 D 760, gleichfalls ein Adagio, läßt er als eine plötzliche Stimmungstrübung vorüberziehen, und sein Donnerlametta in Scherzo und Allegro machen beinahe vergessen, daß eine zentrale Figur des Schubertschen musikalischen und politischen Denkens umgeht, der "Wanderer" durch Metternichs Friedhof Europa.

Ist nun Lang Lang ein neuer Horowitz, dessen Schüler Gary Graffman wiederum Lang Langs Lehrer am Curtis Institute war, oder gar ein Wiedergänger Franz Liszts, Salonlöwe und Klaviervirtuose?

Die europäische Klassik und Romantik, aber auch die europäisierenden "Acht Erinnerungen in Aquarellfarben" op. 1 von Tan Dun oder das Duo "Horses", eine Volkslied-Adaption, zu der sein Vater Lang Guo-ren die Erhu spielt, eine zweisaitige, traditionelle chinesische Geige, scheinen Lang Lang nichts als ein einziges unerschöpfliches Energiereservoire für überwältigende Events zu bedeuten. Ihre technischen Herausforderungen meistert er bravourös, ihre Bedeutungsschichten bringt er nicht zur Sprache.

Daß man das Tiefe an der Oberfläche verstecken müsse, wissen wir von Hofmannsthal. Wir hören gespenstisch glattpolierte Oberflächen. Wo versteckt sich das Tiefe?


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen