© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

Wenn Wiederaufbau geschichtlich wird
Ein Sammelband beschreibt Beispiele architektonischer Rekonstruktionen in Deutschland und Polen
Claus-M. Wolfschlag

Die Debatte um moderne und traditionelle Architektur, um Abriß und Rekonstruktion kommt gerade im kriegsversehrten Deutschland zunehmend in Gang. Anhänger historischer Rekonstruktionen können von der giftigen Atmosphäre, die ihnen stets entgegenschallt, ein Liedchen singen. So wurden zum Beispiel auch die Frankfurter "Römerberg-Gespräche" Ende Januar zur einseitig modernistischen Schaubühne.

Der Stadtsoziologe Walter Prigge konnte auf dem Podium behaupten, daß historische Rekonstruktionen einen derart geringen Wert besäßen, daß man sie nach zwanzig Jahren wieder abreißen müßte. Er übertrug die leidige Erfahrung mit der Bauhaus-Moderne also einfach auf traditionelle Bauformen. Das Mittelalter als Teil deutscher Leitkultur stehe via Fachwerk im Dienste des Großmachtdenkens, in diesem Sinne spann Prigge seine Gedanken fort. Allenfalls die Tradition der Nachkriegsmoderne solle deshalb wieder baulich aufgegriffen werden. Und Anfang Februar wetterte ein Albert Speer junior in einem Interview des Rheinischen Merkurs gegen jede Wiederherstellung alter Bauwerke. Der 71 Jahre alte Speer hat Frankfurt mit sterilen Bürohochhäusern zugestellt, nun darf er in China monotone Satellitenstädte im Bauhaus-Stil entwerfen. Vor diesem Hintergrund versteht sich, daß Speer sich "grundsätzlich gegen Rekonstruktionen" ausspricht, "ob es sich nun um die Frauenkirche in Dresden oder das Schloß in Berlin handelt, das nicht wiederaufgebaut werden sollte". Für Speer ist das alles "Butzenscheibenromantik" und "Disneyworld". Und er droht den Frankfurter Altstadt-Freunden: "Ich hoffe, es gelingt mir, zusammen mit Verbündeten diesen Plan vom Tisch zu fegen."

Derartige Kampfkulissen sind einem sensiblen Debattenband über "Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten", der nun vom "Deutschen Polen-Institut" veröffentlicht wurde, fern. "Die Schleifung" heißt das Buch und gibt die Ergebnisse einer kunsthistorischen Arbeitstagung in Berlin wieder. Dabei wird die Zerstörungs- und Wiederaufbaudebatte in einen weiteren historischen Rahmen gerückt. Die massive Frontstellung der modernistischen Ideologen ist dieser entspannten Runde aus Architekten, Gesellschaftswissenschaftlern und Bauhistorikern fremd. Hans Wilderotter, Professor für Gestaltung in Berlin, führt beispielsweise in "Zerstörung und Wiederaufbau von Architektur als symbolische Politik" ein. Bilderstürmerei und die symbolische Aufladung von Gebäuden wird deutlich und teils amüsant anhand zahlreicher Beispiele dargelegt.

Die Palette beginnt mit der christlichen Umwidmung heidnischer Kultgebäude, denen von der antiken römischen Administration großenteils bereits ein ästhetischer Wert als Baudenkmal zuerkannt wurde. Verordnungen des römischen Kaisers zum Schutz der Gebäude können als erste denkmalpflegerische Anweisungen angesehen werden. Wurden die Götterbilder nichtchristlicher Religionen zwar zerstört, so wahrte man durch die Umnutzung der Tempel und Haine geistige Kontinuität und machte die neue Religion kompatibler für die Bevölkerung. Umwidmung ist stets auch ein behutsamer Akt der Zerstörung. Der spätere protestantische Ikonoklasmus machte durch die Zerstörung von Heiligenbildern die "Paganisierung des Christentums" letztlich rückgängig. Die französische Revolution wiederum dichtete in den Sturm auf das Pariser Staatsgefängnis 1789 nachträglich eine falsche Bedeutung hinein, die zum Mythos der Aufklärung avancierte. Der Akt der Schleifung, begleitet von Souvenirverkäufen von Steinmaterial als kleine Reliquien, wurde zur Symbolhandlung.

Die moderne Haltung der deutschen Denkmalpflege hingegen entwickelte sich um 1900 im Streit um einen Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses. Gegen Rekonstruktionsbefürworter setzte sich die Auffassung von Georg Dehio durch, die für "konservieren, nicht restaurieren" eintrat. Dehios Antihistorismus wird bis heute als Leitbild der Denkmalpflege bemüht, ungeachtet der Tatsache, daß jener noch keine Ahnung von den Flächenzerstörungen der Bausubstanz im Bombenkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts haben konnte, also zu einer ganz anderen historischen Situation agierte. Werner Durth, Professor für Architekturgeschichte in Darmstadt, verdeutlicht die Hintergründe von Modernisierung und Abrißwut im Nachkriegsdeutschland sowie die Abkehr vom Fortschrittsoptimismus und die bauliche Rückbesinnung ab etwa 1975. Flächendeckend wurden nach dem Krieg ganze Stadtviertel abgeräumt, um sie der Vision jener "schlichten, hellen Räume" zu opfern, die für die Transparenz einer offenen, demokratischen Gesellschaft stehen sollten. Ein Walter Dirks unterfütterte die unsäglichen Folgen schon 1947 in den "Frankfurter Heften" mit Ideologie pur, die jeder Rekonstruktion feindlich gegenüberstand, und verbrämte das als "Mut zum Abschied": "Es hat seine Richtigkeit mit diesem Untergang. Deshalb soll man ihn anerkennen."

"Die Schleifung" läßt nicht nur durch die rege polnische Beteiligung den Blick auch nach Osten schweifen, zur Beschäftigung mit der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche oder dem lange diskutierten Wiederaufbau des Warschauer Stadtschlosses. Auch die städtebauliche Haltung der DDR-Führung, die dem "Junker"-Erbe teils feindlich gegenüberstand, wird vom antiamerikanischen, stalinistischen Eklektizismus der 50er Jahre - "national in der Form, sozialistisch im Inhalt" -, bis zur nachfolgenden Abstumpfung der Stadtplanung detailliert nachgezeichnet. Dabei kommt auch die Auseinandersetzung des Umgangs mit deutschen Residenzschlössern nicht zu kurz.

Das für alle an der Debatte Interessierten lesenswerte Buch erörtert zahlreiche wichtige Gesichtspunkte. Nur selten schimmert der Zeitgeist durch, etwa wenn der Kunsthistoriker Hans-Ernst Mittig allen Ernstes meint, die bauliche Kontinuitätsbehauptung des NS- zum Sowjetsystem versuche letzteres "gleichzusetzen, also abzuwerten". Es handele sich um ein "Propagandamotiv im Kalten Krieg", "verlockend bequem" mit dem "Feindbild kommunistischen Totalitarismus" spielend.

Allgemein sind die Autoren Rekonstruktionen, die es übrigens auch schon zu früheren Jahrhunderten gab, positiv zugeneigt. So wird verdeutlicht, daß meist Bürgerinitiativen oder einzelne Streiter Baurekonstruktionen gegen den Widerstand von Politik und Architektenlobby durchsetzen müssen. Stets werden diese dem Vorwurf "kleinbürgerlicher Geschmacksverirrung" ausgesetzt. Bogdana Kozinska vom Stettiner Stadtmuseum meint dazu, daß die Diskussion um Originalität eigentlich zweitrangig sei. Das Beispiel der wiederaufgebauten Warschauer Altstadt zeigt nach Auffassung des Architekten Andrzej Tomaszewski, daß allein dort die Stadt von den Bürgern angenommen werde, sich urbanes Leben entwickle. Das Wissen um den Rekonstruktionscharakter der Szenerie trete bei den Bürgern dabei in den Hintergrund, Touristen sei es sogar gleichgültig. Eine ganz menschliche Erfolgsgeschichte.

Dieter Bingen, Hans-Martin Hinz (Hrsg.): Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2005, broschiert, 226 Seiten, 19,80 Euro

Foto: Warschauer Schloß mit König-Sigismund-Denkmal: Rekonstruktionscharakter tritt in den Hintergrund


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