© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

Im Rapunzelzimmer
Zensur: Ein neuer Geschäftsgang der Bayerischen Staatsbibliothek erinnert fatal an DDR-Zustände
Thorsten Hinz

Umberto Ecos vor 25 Jahren erschienener Roman "Der Name der Rose" handelt von einer Mordserie in einer mittelalterlichen Bibliothek. Als Drahtzieher stellt sich der blinde Jorge von Burgos heraus, ein Mönch, der verhindern wollte, daß ein bestimmtes Buch, das einzige Exemplar des zweiten Teils der aristotelischen "Poetik" mit dem Titel "Über das Komische" gefunden und bekannt würde. Jorge fürchtete, die Anarchie des Lachens würde den christlichen Glauben und das kirchliche Gefüge erschüttern.

Jorge steht für alle Dogmatiker, die den freischwebenden Geist, der nach Erkenntnis und Wahrheit strebt, aus Gründen der Systemerhaltung nicht zulassen wollen und können. In der DDR wurde das Buch als Gleichnis für die Arkan-praxis der sozialistischen Presse-, Informations- und Verlagspolitik verstanden, zumal es im Vorwort des fiktiven Herausgebers einen verschleierten Hinweis auf die Niederschlagung des "Prager Frühlings" von 1968 gibt.

Für Leipziger Studenten lag zusätzlich der Vergleich mit der Deutschen Bücherei nahe, die 1912 als Gesamtarchiv für deutsches Schrifttum gegründet wurde und in dieser Funktion nach 1945 auch sämtliche "Westbücher" sammelte. Deshalb war die Bibliothek ein besonderer Anziehungsort. Technische Literatur war ziemlich leicht zu bekommen, auch die meiste Belletristik, nur Günter Grass nahm man sein Theaterstück über den 17. Juni übel.

Bei Büchern zur Geschichte, Zeitgeschichte, Soziologie und politischen Theorie wurde es richtig brenzlig. Canettis "Masse und Macht" war zwar erhältlich, sogar Marcuses Werk "Der eindimensionale Mensch", obwohl Marcuse dazu auch den Homo sovieticus zählte. Bei Büchern von DDR-Renegaten, Stalin-Biographien, der Geschichte der sozialistischen Staaten, Totalitarismustheorien oder ähnlichem war das Ende der Fahnenstange erreicht. Man erhielt den Bestellzettel zurück mit dem Stempelaufdruck: "Nur für wissenschaftliche Zwecke!"

Die Repression muß permanent gesteigert werden

Man mußte einen "Giftschein" besitzen, einen Zettel, auf dem der Forschungszweck vermerkt und vom Professor bestätigt wurde. Man wählte sich als Thema seiner Diplomarbeit am besten einen westdeutschen Schriftsteller und gab an, sein Werk, die Einflüsse auf sein Schaffen und seine Rezeption erkunden zu wollen. Dann hieß es Treppen steigen. Das erste Geschoß des riesigen Bibliotheksgebäudes war der Lesebereich, das zweite der Katalogbereich, der dritte der Leitungsbereich, den man normalerweise nie betrat. Von dort ging es über einen separaten Flur zu einer Eisentreppe, die an einer Eisentür endete. Dahinter befand sich der Ausleihbereich für die "sekretierte Literatur". Hier meldete man sich an und nahm mit nassen Händen seine Bücher entgegen, um endlich das geheime Lesekabinett zu betreten, "Rapunzelzimmer" genannt, weil es sich in einem runden Türmchen befand.

Die Erinnerungen daran sind unangenehm und mit Scham befrachtet. Man denkt an fahles Neonlicht und an energische weibliche Aufsichtpersonen in beige- oder rosafarbenen Acrylpullovern. Die Leser schirmten ihre kostbare Lektüre gegen die Nachbarn ab, aus den Blicken sprach jene selig-lüsterne Blödigkeit, die man wenig später auch beim Massensturm auf die Beate-Uhse-Zentren beobachten konnte.

Dort oben habe ich 1987 die Bücher Hannah Arendts gelesen. Irgendein SED-Theoretiker hatte sich an irgendeiner Stelle abfällig über sie geäußert, und das in einer Weise, daß ich neugierig wurde. Aus den "Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft" interessierten mich vor allem die Passagen, in denen Arendt beschreibt, daß totalitäre Diktaturen keine freie Öffentlichkeit zulassen können, weil sie ihrem Wesen nach einen Angriff auf das Leben selbst darstellen. Ihren Herrschaftsanspruch leiten sie aus angeblichen historischen Gesetzen ab - in Wahrheit sind es aktuelle Machtinteressen, die rückprojiziert werden.

Die Annahme, dieses Bündnis aus Ideologie und Macht müsse irgendwann zur Vernunft oder wenigstens zum Stillstand kommen, sei irrig, denn das System habe gar keine andere Überlebensmöglichkeit als die permanente Steigerung der Repression. Die Notwendigkeit, zwecks Systemerhalt den Wahnsinn immer weiter zu schrauben, ergibt sich aus der Dynamik des Lebens, denn jede neue Erkenntnis, jeder neue Gedanke, der ans Licht tritt, kann geeignet sein, das totalitäre Paradigma aufzusprengen und das System über kurz oder lang seiner Grundlagen zu berauben. Daher sieht es sich zu immer raffinierteren Methoden genötigt, um die Kontrolle über die Vergangenheit und Gegenwart und damit über die Zukunft zu behalten. Das war 1987 eine fatale Aussicht! Doch dann ging alles ganz schnell, und das "Rapunzelzimmer" hatte ausgedient.

Wirklich? Im Dezember 2005 veröffentlichte die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) eine Hausmitteilung zu dem Punkt: "Neuer Geschäftsgang: tendenziöse und politisch extreme Literatur", wo es heißt: "Immer häufiger erreichen die Bayerische Staatsbibliothek Anfragen aus der Öffentlichkeit, in denen großes Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht wird, daß die BSB derartige Literatur erwirbt und damit ihrer Verbreitungsmöglichkeit Vorschub leistet."

Es geht also um die Forderung nach Zensur! Diese ist nicht per se sittenwidrig. Niemand bestreitet zum Beispiel die Notwendigkeit des Jugendschutzes. Auch auf das Verbot eines Kochbuchs mit den Lieblingsspeisen des Kannibalen von Rotenburg oder eines Ratgebers "Erben leichtgemacht" mit Hinweisen zur unauffälligen Beseitigung der lästigen Verwandtschaft wird man sich schnell einigen können.

Eine Staatsbibliothek soll sammeln und präsentieren

Verständlich ist auch, "daß Literatur, die einen Straftatbestand erfüllt, nicht frei zugänglich gemacht wird", obwohl die Grenzen zwischen kriminellen und nur politischen "Gedankenverbrechen" inzwischen fließend geworden sind. Das war's aber auch schon. Die Aufgabe einer Staatsbibliothek besteht primär im Sammeln und Präsentieren des Schrifttums, nicht aber in der Steuerung der Lektüre freier Bürger und damit der privaten und öffentlichen Meinungsbildung.

Bereits die bigotte Sprache läßt erahnen, daß die zuständigen Gremien der BSB von diesem freiheitlichen Berufsethos weit entfernt sind. Sie könnte glatt aus dem Neuen Deutschland stammen. Wenn in der DDR neue Einschränkungen der ohnehin kärglich bemessenen Freiheiten verkündet wurden, erfolgte das unter Hinweis auf "empörte Werktätige", die "immer häufiger" diesen oder jenen Mißstand beklagten und seine Beseitigung verlangten. Sogar die Berliner Mauer soll auf diese Weise zustande gekommen sein.

Was wird nun in München passieren? Die tatsächlich verbotenen Bücher, die also einen Straftatbestand erfüllen, sollen eine Spezialsignatur und den Ausleihstatus "nicht ausleihbar" erhalten, was, wie gesagt, angehen mag. Es gibt aber die viel häufigeren Fälle, "in denen eine Publikation nicht beschlagnahmt ist, aber eindeutig tendenziöse oder politisch extreme Positionen erkennen läßt". Auch in diesem Falle soll die Ausleihe auf die wissenschaftliche Forschung beschränkt bleiben. Die Direktion der Staatsbibliothek versichert, sie vertrete "bewußt eine eher liberale Haltung, sofern ein wissenschaftliches Nutzungsinteresse gegeben ist". Man ist also "durchaus liberal" (Heinrich Mann, "Der Untertan"). Das dürfte künftige Bibliotheksnutzer beruhigen, die schon befürchtet hatten, auf ihren Ruf "Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter!" würde sich künftig ein Fenster öffnen, aus dem der Verfassungsschutz herablächelt: "Ich bin schon da!"

Lügen werden früher oder später als solche entlarvt

Natürlich geht es nur um Publikationen, die das "Dritte Reich" betreffen, und zu den Merkmalen, die ihre Einstufung als "extrem" und "tendenziös" und ihre Absonderung begründen, zählen unter anderem die "Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts", die "Leugnung oder Verharmlosung von Massakern, die von Deutschen im Krieg an der Zivilbevölkerung der gegnerischen Länder begangen wurden" und die Leugnung oder Relativierung der Kriegsschuld Deutschlands". Der tendenziöse Charakter der Anordnung und die Möglichkeiten politischen Mißbrauchs sind so eindeutig, daß sich jeder Kommentar dazu erübrigt.

Die DDR war ein Staat, der auf der Lüge aufgebaut war. Aus seiner Sicht war es nur logisch, die Informationsfreiheit soweit wie möglich einzuschränken, um dem einzelnen Bürger die intellektuelle Begründung für diese gefühlte Wahrheit zu erschweren. Warum aber muß eine Demokratie, die doch auf den festen Fundamenten der Wahrheit beruht, die Lügen fürchten? Wenn nicht früher, dann eben später, werden sie als solche entlarvt, und deshalb wird jeder ihrer Angriffe die Fundamente nur festigen. Wenn der Staat es aber für nötig hält, die Lüge zu verbieten, was besagt das über den Charakter der Wahrheit und was endlich auch über den der Lüge? Und was schließlich über die Grundlagen des Staates überhaupt? In "Der Name der Rose" wird zum Schluß der ganze herrliche Bibliotheksbau ein Raub der Flammen. Nicht einmal, daß der blinde Jorge von Burgos in ihnen umkommt, bedeutet einen Trost.

Foto: Sean Connery als Franziskanermönch William von Baskerville in Jean-Jacques Annauds Film "Der Name der Rose" (1985): Im Jahre 1327 stößt William bei Nachforschungen in einem Benediktinerkloster auf eine geheime Bibliothek mit verbotenen Schriften


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