© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Darum scheitert die EU
von Bernd- Thomas Ramb

Wird die Europäische Union als eine Art Ehe zwischen den beteiligten Staaten betrachtet, dann gilt nach dem Rechtswörterbuch des Zivilrechts eine Ehe als gescheitert, "wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, daß die Ehegatten sie wiederherstellen". Es ist nicht nur reizvoll, sondern elementar notwendig, die EU daraufhin zu analysieren, ob sie noch besteht und - falls nicht - ob sie wiederhergestellt werden kann. Die definitorische Anlehnung an den juristischen Begriff der Ehe deckt jedoch nicht vollständig das Wesen der EU ab. Als Zweckgemeinschaft verfolgt sie eine von ihr bestimmte Zielsetzung. Sie definiert gewissermaßen zusätzlich, was Ehe ist oder, genauer, sein soll. Demzufolge ist das Scheitern der EU daran zu messen, ob sie die von ihr gesetzten Ziele erreicht hat und - falls nicht - ob sie diese überhaupt erreichen kann. Ein dritter und letzter Aspekt, der bei der Analyse des Scheiterns zu beachten ist, betrifft sozusagen die Anzahl der Ehepartner: Sind alle, die in dieser Gemeinschaft aufgenommen werden sollten, auch in ihr vereint?

Der Frage der Teilnehmer an der Gemeinschaft ist schon deshalb ein besonderer Stellenwert beizumessen, weil sie für die augenblickliche Krise der EU hauptverantwortlich ist. Das Nein der Franzosen und Niederländer zum vorgelegten Verfassungsentwurf der EU basierte wesentlich auf einem damit verbundenen Nein zum geplanten Beitritt der Türkei. Nicht auszuschließen sind zudem Unmutsäußerungen zu der bevorstehen Aufnahme Rumäniens und Bulgariens, und als Motiv vorstellbar ist auch eine negative Reaktion auf die bereits vollzogene Osterweiterung der EU. Im Falle der Türkei drängt sich primär die Frage auf, ob dieses Land überhaupt zu Europa gehört oder nicht. Die bloße geographische Beurteilung kann dabei keine entscheidende Rolle spielen. Sonst müßten die Ukraine, Weißrußland und sogar Rußland zu den potentiellen Beitrittskandidaten gerechnet werden. Historisch gesehen gehört die Türkei - wenn Europa in der Nachfolge des Römischen Reiches betrachtet wird - ebenso dazu wie alle anderen Mittelmeeranrainer, einschließlich Syrien, der Libanon und Israel, sowie Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko. Für die Ein- oder Ausgrenzung sind andere Aspekte maßgeblicher. Sie lassen sich in einem alten Witz pointieren, in dem der Bergbauer zu seiner Tochter sagt: Es ist mir egal, ob mein Schwiegersohn ein Türke ist. Hauptsache, er ist katholisch.

Der Witz ist insofern zynisch, als gerade die Türkei betont, sie sehe die EU nicht als Christenclub. Zunächst soll damit allerdings darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Beitritt zur EU eines gewissen Maßes an gemeinsamen Wertvorstellungen bedarf. Formal sind diese in der Präambel des EU-Vertrags festgehalten, die das Bekenntnis zu den "Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" fordert. Vom Christentum oder gar Katholischsein ist in der Tat keine Rede. Selbst ein allgemeiner Gottesbezug wurde dort wie auch im Verfassungsentwurf vermieden, was im übrigen ebenfalls den Unmut großer Kreise der um Zustimmung ersuchten Bevölkerungen nach sich zog. Werden allein die in der Präambel formulierten Anforderungen zum Beitrittsmaßstab erhoben, ist lediglich durch die aufnehmende Gemeinschaft festzustellen, ob die Aufnahme beantragenden Staaten diese erfüllen oder nicht. Eine zusätzliche territoriale oder historisch begründete Einschränkung ist nicht zwingend. Demnach können auch Länder wie Afghanistan oder Simbabwe nicht ausgeschlossen werden - zumal sich auch dort historische Bezüge zu Europa finden ließen.

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Zu der klassischen Zielkombination des politischen Handelns, bestehend aus den Zielgrößen Friede, Freiheit und wirtschaftlicher Wohlstand, gesellen sich die modernen Zielgrößen Umweltqualität und soziale Gerechtigkeit.

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Die faktische Ausgrenzung und auch der freiwillige Verzicht auf die Mitgliedschaft in der EU folgen anderen Überlegungen. Festzustellen ist zunächst, daß neben den Aufnahme begehrenden Staaten auch Länder existieren, die die Voraussetzungen zwar erfüllen, aber auf eine Teilnahme verzichten. Warum aber vermeiden die Schweiz und Norwegen den Beitritt zur EU? Weil diese Länder nicht mit den Zielen der Europäischen Gemeinschaft konform gehen. Sogar innerhalb der EU sind Teilverzichte der Mitgliedschaft erkennbar. Dänemark, Großbritannien und Schweden verzichten darauf, die Europäische Gemeinschaftswährung einzuführen, obwohl sie formal die Voraussetzungen erfüllen, weil sie Nachteile befürchten. Umgekehrt unternehmen beitrittswillige Staaten die größten Anstrengungen, die teilweise an die Selbstverleugnung ihrer nationalen oder traditionellen Identitäten heranreichen, um die Beitrittsvoraussetzungen zu erfüllen, weil sie die Ziele der EU attraktiv finden und sich für ihr Land und ihre Bevölkerung Vorteile erhoffen. Vorteilhaft muß der Beitritt aber auch für die aufnehmende Gemeinschaft sein, sonst widerspricht ihr Verhalten dem Grundprinzip des rationalen Handelns.

Welche Vorteile sich die Beteiligten versprechen, verrät der Zielkatalog der EU (Artikel 3 des aktuellen Verfassungsentwurfs). Die weitschweifige Zielformulierung läßt sich auf einen essentiellen Gehalt reduzieren. Zu der klassischen Zielkombination des politischen Handelns, bestehend aus den Zielgrößen Friede, Freiheit und wirtschaftlicher Wohlstand, gesellen sich die modernen Zielgrößen Umweltqualität und soziale Gerechtigkeit. Die gleichzeitige Verfolgung mehrere Ziele birgt zwangsläufig die Gefahr von Zielkonflikten. Die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Zielgrößen erfordern daher eine Gesamtbeurteilung, basierend auf einer wertenden Gewichtung der einzelnen Komponenten. Mit dieser Aufgabe muß sich der Europarat permanent befassen, und es muß ihm immer wieder gelingen, eine gemeinsame Lösung zu finden, wenn er nicht scheitern soll. Ein zweiter, damit zusammenhängender Problembereich betrifft die Definition der einzelnen Zielgrößen. Wann ist ein Zustand des Friedens erreicht, welches Art von Freiheit ist gewünscht, wie mißt sich wirtschaftlicher Wohlstand, was zählt zur Umweltqualität und, vor allem, was ist unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen? Insbesondere die letztgenannte Zielgröße muß als diffuser Begriff bezeichnet werden. Schließlich beinhaltet sie so unterschiedliche soziale Komponenten wie soziale Marktwirtschaft, sozialer Fortschritt, sozialer Zusammenhalt, soziale Integration, sozialen Schutz, Solidarität und einiges mehr. Soziale Gerechtigkeit ist aber auch ein höchst populäre Zielgröße, der sich kaum ein Politiker verschließen kann. Wer will schon soziale Ungerechtigkeit fordern oder durchsetzen?

Wenn sich der Begriff selbst auch kaum präzisieren läßt, so ist das Instrument, mit dem soziale Gerechtigkeit erzielt wird, bestens bekannt und weitgehend unstrittig: die Umverteilung von Einkommen. Der Einwand, soziale Gerechtigkeit lasse sich auch durch pure Gesetzgebung erzielen, etwa durch Antidiskriminierungsgesetze oder Verordnungen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, verfängt nicht, denn jede Sozialgesetzgebung, ja jede Gesetzgebung schlechthin, bewirkt stets eine indirekte Umverteilung von Einkommen. Die direkte Umverteilung erfolgt über den EU-Haushalt. Die einzelnen Staaten zahlen in den Haushalt der EU ein und erhalten aus dem EU-Haushalt Gelder, vor allem Agrarsubventionen und Strukturbeihilfen. Im Saldo der Ein- und Auszahlungen lassen sich dann Geber- und Nehmerländer feststellen.

Die Festlegung der Instrumente, mit denen die EU ihre Ziele verfolgt, die EU-weite Gesetzgebung und die EU-Haushaltspolitik, verbunden mit der EU-Erweiterungspolitik, bilden zusammen mit der ständigen Revision der Zielsetzung eine permanente Aufgabe. Insofern kann festgestellt werden, daß - um im Vergleich zu bleiben - die Ehe noch nie wirklich vollzogen wurde. Allerdings läßt sich daraus kein Scheitern schließen, solange der Wille zur endgültigen Formulierung der Ziele nicht aufgegeben wird und die Fähigkeit wenigstens zur vorübergehenden Einigung beim Instrumenteneinsatz nicht verloren geht. Der Konsens darüber wird jedoch mit zunehmender Erweiterung der EU immer schwieriger. Jedes Teilnehmerland entwickelt für sich eine Optimalvorstellung über die Definition der einzelnen Unterziele und ihre Gewichtung im Zielbündel sowie über den notwendigen Instrumenteneinsatz. Diese Optimalvorstellungen sind von Land zu Land unterschiedlich.

Vor allem gibt es Divergenzen in der Aufteilung des EU-Haushalts, da hier das Umverteilungssaldo unmittelbar deutlich wird. Die Tatsache, daß ein Land dabei als Geberland in Erscheinung tritt, bildet grundsätzlich noch keinen Anlaß zum Scheitern. Es gilt, die Kosten in Verbindung mit den anderen EU-Zielen abzuwägen. Solange der Gesamtnutzen die Kosten überwiegt, ist die EU-Zahlung profitabel. Gleiches gilt für die Zustimmung zu EU-Gesetzen. Die Gesamtbilanz muß positiv sein oder als positiv empfunden werden, sonst ist die Mitgliedschaft als Verlustgeschäft zu verbuchen.

Schon bilaterale Vertragsvereinbarungen können an der Unvereinbarkeit der Zielvorstellungen scheitern. Besteht jedoch ein Spielraum für eine Kompromißlösung, wird diese zu einer Situation führen, in der beide beteiligten Seiten einen maximal erreichbaren Gewinn sehen. In der ökonomischen Theorie werden solche Verhandlungslösungen nach dem italienischen Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto als Pareto-optimal bezeichnet. Tritt ein weiterer Verhandlungspartner hinzu, wird der Raum für gemeinsam tragfähige Kompromisse in der Regel kleiner. Dennoch sind Pareto-optimale Verhandlungslösungen nicht auszuschließen.

Die bereits vor der Osterweiterung aufgetretenen Schwierigkeiten, eine gemeinsame Entscheidung zur einheitlichen Zielsetzung der EU zu finden, konnten bislang stets über ein universal einsetzbares Korrektiv der einzelstaatlichen Verlustvorstellungen beseitigt werden: die Kompensationszahlung über den EU-Haushalt durch eine erhöhte Zuweisung von EU-Haushaltsmittel oder durch eine Senkung der Zahlungsverpflichtungen in den EU-Haushalt. Die Einführung von Ausgleichszahlungen verstärkt jedoch die Dynamik der Zielsetzung. Zunächst sind generelle Änderungen der Präferenzstruktur der Teilnehmerländer im Laufe der Zeit nicht auszuschließen.

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Die EU wird daran scheitern, daß ihre Zielsetzung sich von der bloßen Schaffung eines Wirtschaftsfrei-raums zu einer organisierten Ein-kommensumverteilung, zu einem sozialistischen Metasystem wandelte.

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Mit der Einführung von Kompensationszahlungen entsteht aber zusätzlich der Anreiz, Erwartungen über diese Transfereinkommen in die einzelstaatliche Zielsetzung zu integrieren. Der Wunsch nach Kompensationsleistungen wächst dabei insgesamt ständig an, weil bestehende Empfängerländer vorgeschlagene Kürzungen ihrer Gelder als Verlustsituation deklarieren und deshalb ablehnen. Andere Länder werden daher eher eine Steigerung ihrer Bezüge als die Senkung der anderen Zahlungen anstreben. Das für die Ausgleichzahlungen erforderliche Budget steigt dabei um so schneller, je mehr zusätzliche Teilnehmerländer hinzukommen. Denn der Anreiz, der Gemeinschaft beizutreten, ist für ein potentielles Geberland deutlich geringer als für ein potentielles Nehmerland.

Die drohende Entscheidungsunfähigkeit läßt sich nur noch durch eine Änderung der Entscheidungsregeln abwenden. Bislang basiert die Einigung, um die Pareto-Optimalität zu gewährleisten, auf der Veto-Regel. Wird das Veto-Recht aufgehoben und eine Mehrheitsentscheidung eingeführt, wird zwar der Spielraum der Entscheidungsmöglichkeiten erweitert, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit eröffnet, daß ein oder mehrere Teilnehmerländer überstimmt werden. Entscheidungen gegen deren Willen bedeuten aber stets, daß in diesen Ländern eine Verlustsituation entsteht. Daran ändert auch die Einführung restriktiver Mehrheitsregeln nichts. Auch über solche Mehrheiten werden Abstimmungsergebnisse möglich, die bei einzelnen Mitgliedsstaaten zu eindeutigen Verlusten führen können. Wäre das über die Qualifikation der Mehrheit grundsätzlich ausgeschlossen, wäre die Aufgabe der Einstimmigkeitsregel unnötig.

Die Einführung von mehrheitlichen statt einheitlichen Abstimmungen ist ein essentieller Bestandteil der sogenannten Vertiefung der Europäischen Union. Sie wird nicht zuletzt durch die Erweiterung des Teilnehmerkreises zwingend erforderlich. Die oft gesehene Gegensätzlichkeit von Erweiterung und Vertiefung der EU ist somit im Kern eine Dependenz. Die Erweiterung erfordert eine Vertiefung, denn ohne Vertiefung führt die Erweiterung zur Entscheidungsunfähigkeit. Mit der Einführung der Mehrheitsabstimmungen wird aber der Anreiz weiter verstärkt, die EU zur Einkommensumverteilung zu nutzen. Sie erfährt damit die gleiche Entwicklung, die innerhalb vieler Teilnehmerländer festzustellen ist: Die Umwandlung der Demokratie in den Sozialismus mit der legitimierten Enteignung einer Minderheit durch die Mehrheit im Namen der sozialen Gerechtigkeit. Sozialistische Systeme können eine Zeitlang existieren, ihr Ende ist jedoch mit Sicherheit vorbestimmt, weil sie erstens ihr materielle Substanz verbrauchen und zweitens irreversible Prozesse beinhalten: Sie lassen sich grundsätzlich nicht reformieren. Eine Reform würde voraussetzen, daß Nutznießer der Umverteilung freiwillig auf ihre Macht zur Umverteilung verzichten.

Zusammenfassend läßt sich damit die These des Scheiterns der EU wie folgt begründen. Die Zielsetzung der EU wandelte sich von der bloßen Schaffung eines Wirtschaftsfreiraums zu einer organisierten Einkommensumverteilung, zu einem sozialistischen Metasystem. Den ökonomischen Zwang zu innerstaatlichen Wirtschaftsreformen löst die Alternative ab, im Namen der sozialen Gerechtigkeit von anderen Teilnehmern Transfereinkommen einfordern zu können. Die Umverteilungsspielräume für eine einstimmige Entscheidung nehmen im Laufe der Zeit kontinuierlich ab, weil die wirtschaftliche Leistungskraft sinkt und die Forderungen nach Ausgleichszahlungen zunehmen. Das System kann durch die Einführung von Mehrheitsabstimmungen vorübergehend aufrechterhalten werden, allerdings mit der Gefahr, daß einzelne Teilnehmerländer dabei in eine Verlustsituation geraten und den Ausstieg beschließen. Da damit ein Geberland ausscheiden würde, das mit seinen Verlusten die Gewinnsituation bei anderen Teilnehmerländer finanziert hätte, wird eine Entwicklung beschleunigt, die ohnedies eintreten muß: das Ende der Finanzierbarkeit der Umverteilung und damit das Scheitern der EU.

 

Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb lehrte Wirtschaftswissenschaften unter anderem an der Universität/Gesamthochschule Siegen und arbeitet als selbständiger wirtschaftswissenschaftler Berater. Der Beitrag ist ein Auszug aus einem Vortrag vor der Münchner Winterakademie am 15. Februar 2006. Der volle Wortlaut erscheint als Hörskript bei www.hoerskript.de.


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