© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Frisch gepresst

Bürgerliche Reisen. "Stadtflucht und Natursehnsucht" sind die zwei Seiten der einen Medaille des Reisefiebers im 19. Jahrhundert. Die Tonnen an Reiseberichten, die der frühe Tourismus zeitigte, erfreuen sich zunehmender Aufmerksamkeit kulturwissenschaftlich orientierter Literatur- und Geschichtswissenschaft. In diese Modebewe-gung reiht sich auch die Berliner Dissertation von Philipp Prein über "Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert" ein (Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, LIT Verlag, Münster 2005, 297 Seiten, broschiert, 29,90 Euro). Prein konzentriert sich auf die Reiseerfahrungen von Angehörigen der städtischen Oberschichten in London, Hamburg und Basel. Dabei gelangt er zu dem nicht sehr überraschenden Resultat, daß dezidierte "Bildungsbürger" dazu neigten, sich der Vergangenheit zuzuwenden, also vormodernen, agrarisch dominierten Naturräumen, die in ihrer "Einfachheit die Gegenwart in den Schatten stellten", oder versunkenen Kulturlandschaften mit den Relikten einer "besseren Vergangenheit". Dabei ist Prein auch bemüht, einen bislang weniger beachteten gesellschaftlichen Effekt nachzuweisen: Reisende lernten, sich mit Fremden zu verbinden oder sich von ihnen zu distanzieren, und ordneten sich dabei selbst "abstrakten Einheiten" zu. Auf und im Reisen, in der Außenabgren-zung und im Reflex auf das eigene "Wir" bildete sich also die "moderne Vorstellung von Klassen". Der Massentourismus habe diese Bürgerlichkeit als "integrierende Einheit" wieder in Frage gestellt.

Alpenästhetik. In der französischen Wissenschaftskultur hat man eine eigene Art ausgebildet, die Wirklichkeit zu erschließen. Nicht nur bei Bourdieu, Foucault &Co. vermittelt dieser Zugriff oft den Eindruck, es werde bewußt verkompliziert. Denn selbst außerhalb der Diskurszonen Pariser Meisterdenker begegnet man diesem Stil, der mit aufwendiger Begrifflichkeit oft zu recht banalen Einsichten gelangt. Zur Bestätigung lese man die mit schönen Bildern ausgestattete Arbeit Claude Reichlers über die "Entdeckung einer Landschaft" (Reisende, Schriftsteller, Künstler und ihre Alpen, Rotpunktverlag, Zürich 2005, 339 Seiten, broschiert, Abbildungen, 26,50 Euro). Reichler, Professor für französische Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Lausanne, versucht zu erklären, warum die Alpen von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zum europäischen "Mythos" wurden. Daß eine Landschaft erst im Auge des Betrachters "entsteht", daß sie nach kulturellen Mustern geformt wird, daß sie sich erst als ein "Sinn-Gebilde" in der Beziehung Mensch-Natur konstituiert: das sind inzwischen triviale Erklärungsmuster, die auch schon oft auf die "Entdeckung" der Alpen durch Künstler und Schriftsteller angewendet wurden. Insofern bietet Reichler keinen neuen Ansatz, er faßt Bekanntes nur in französisch-komplizierter Manier zusammen.


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