© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Pankraz,
das Minarett und das Geheimnis der Feigheit

Die letzten Wochen haben viel Gelegenheit geboten, über das Wesen der Feigheit nachzudenken. Man hörte (Stichwort "Karikaturenstreit") reihenweise öffentliche Entschuldigungen, die sich nicht ehrlicher Reue verdankten, sondern ausschließlich und eindeutig der Feigheit. Ganze Länderregierungen krochen zu Kreuze, nachdem man ihnen die nackte Faust gezeigt hatte. Aus sicherer Deckung heraus setzte es viele Ratschläge, einen ungeheuren Wortschwall, aber sich persönlich exponieren wollte kaum jemand.

Dabei war das Risiko vergleichsweise gering. Drohungen wurden abgelassen, doch keiner der Bedrohten kam wirklich zu Schaden. Die Fäusteschüttler konnten sich ins Fäustchen lachen. Viele, die von ihnen (noch) gar nicht direkt bedroht worden waren, zogen schon beim Gedanken an eine potentielle Bedrohung den Schwanz ein und räumten gewisse Steine eines möglichen Anstoßes still beiseite. So jene berühmte Künstlerin, die die Nachbildung einer Moschee auf eine Ausstellung geschickt hatte, deren Minarette Raketenabschußrampen waren. Die Ausstellungsleitung brauchte sie gar nicht erst zum Wegräumen aufzufordern.

Es bestätigte sich die alte Weisheit: Mit dem Maul am schnellsten sind die feigen Hunde. Wer vor nichts Achtung hat, kann leicht witzig sein, indes, für seinen Witz einzustehen ist schon wieder eine ganz andere Sache. Deshalb ja auch die unermüdlichen Hinweise, daß man doch nur sein verfassungsmäßig verbrieftes Recht in Anspruch genommen habe. Man weist jede persönliche Verantwortung weit von sich, tut so, als decke die offizielle "Erlaubnis" zur Meinungsfreiheit sämtliche Valeurs des guten Geschmacks und der sozialen Rücksichtnahme, der Fairneß und des religiösen Respekts automatisch ab.

Feigheit, so zeigt sich, ist nicht nur Ausdruck fehlenden Mutes, sondern - sogar in erster Linie - fehlender Individualität und Persönlichkeit. Der Feige versteckt sich hinter dem Rücken der Masse. Entfesselt sich diese, tobt herum und schlägt zu, so wird auch er "mutig", schlägt zu und wagt sich dabei unter Umständen sogar in die vorderste Reihe. Sobald die kollektive Richtung aber umschlägt (was, wie jeder Massenpsychologe weiß, von einem Augenblick auf den anderen passiert), gerät der Feigling sofort in Panik, will es nicht gewesen sein und mimt den toten Mann.

Sein Gespür für "Trends", für modische Richtungen und kollektive Launen ist hochentwickelt. Seine beste Zeit kommt, wenn Gesetze, Traditionen und tief eingeschliffene Überzeugungen sich einebnen oder ins Wanken geraten, wenn also der "Trend", das, was "man" so eben denkt, peu à peu an ihre Stelle tritt. Dann kann sich der Feigling als "mutiger Tabubrecher" aufspielen und wichtig machen.

Im Zeitalter der Medien, der Meinungsumfragen und der "Stimmungsdemokratie" (P. Virilio) ist es leider vor allem die Politik, in deren Reihen sich die Feiglinge sammeln. Man kann geradezu sagen: Die Feigheit ist die typische déformation professionelle der modernen Politik. Ihre Repräsentanten denken nicht mehr in eigenen Überzeugungen oder in Projektionen kühner Taten, sondern sie hocken Tag für Tag über den jeweils aktuellen Umfragen, prüfen sich ängstlich, ob sie irgendeine, vielleicht wahlentscheidende, Klientel oder gar einen aktuellen Trend übersehen haben, und die einzige eigene Frage, die sie noch zu stellen vermögen, lautet: "Wem muß ich heute hinterherlaufen?"

Terroristen und ausländische Diktatoren kennen die Feigheit westlicher Stimmungsdemokraten genau und wissen blendend auf der entsprechenden Klaviatur zu spielen. Der "Karikaturenstreit" lieferte das jüngste Exempel. Für die Drahtzieher der "gerechten Empörung" war es natürlich ein Leichtes, außer den Massen in den eigenen Ländern auch ihre angestammte "fünfte Kolonne" in den westlichen Ländern zu mobilisieren. Zusätzlich mobilisierten sie dort aber im Handumdrehen noch eine sechste Kolonne: die Kolonne der Feiglinge in den Reihen der "Ungläubigen". Und diese war die effektivste.

Wohin dergleichen auf Dauer führt, dämmert einem, sobald man sich der von heutigen Politologen gern ignorierten Lehre erinnert, daß Machtausübung letztlich nichts weiter sei als das ebenso freche wie virtuose Spiel mit der Feigheit der anderen. Es kann einem himmelangst werden, denn diese Lehre hat die allerfeinsten Ahnen. Die größten Politikbeobachter alter wie neuerer Zeit neigten ihr zu, und sie konstatierten unverblümt, daß jede Herrschaft von vornherein verloren sei, sofern sie sich dieser Einsicht verschließe.

Plotinos (205-270) glaubte, daß die Lehre vom Herrschaftsspiel mit der Feigheit direkt aus den Händen der Vorsehung stamme und ihr deshalb eine unantastbare Würde zukomme: "Die schlechten Menschen herrschen, und zwar infolge der Feigheit der Beherrschten. Das ist auch ganz in der Ordnung" (3. Enneade, Kapitel "Über die Vorsehung"). Und Ludwig Börne (1786-1837), um nur noch den zu nennen, sprach geradezu von einem "Geheimnis": "Das Geheimnis jeder Macht besteht darin, daß andere noch feiger sind als wir selbst" ("Der Narr im weißen Schwan" II/1829).

Sind Geheimnisse aber nicht dazu da, daß man sie früher oder später lüftet? Gewiß, es gibt welche, die sich wohl niemals werden enträtseln lassen, und zu ihnen gehören die tiefsten und umfassendsten, zum Beispiel was die Welt im Innersten zusammenhält und ob es einen gnädigen Gott gibt. Das Geheimnis weltlicher Herrschaft, dünkt Pankraz, gehört allerdings nicht zu den Ur- und Totalgeheimnissen. Man braucht es ja im Grunde nur auszusprechen, um seine Schatten zu vertreiben.

Die Lösung ist hier kein Problem der Erkenntnis, sondern eines des Mutes. Aufklärung in diesem Falle bedeutet, den Mut zum Mut zu haben. Wer den nicht aufbringt, verdient auch nichts anderes, als beherrscht zu werden.


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