© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

"Ende der Fahnenstange erreicht"
Der Soziologe Peter Stiegnitz über das Ende der "Multikultur" und die Wiederentdeckung Europas als Abendland
Moritz Schwarz

Herr Professor Stiegnitz, seit Wochen erschüttert der Konflikt um die Mohammed-Karikaturen das Verhältnis zwischen uns und der moslemischen Welt. Unverdrossen haben dennoch jüngst in einem in der "Zeit" veröffentlichten Aufruf sechzig deutsche Migrationsforscher - darunter der Soziologe Christoph Butterwegge - jene unter ihren Kollegen angegriffen, die mittlerweile die Blauäugikeit der multikulturellen Konzeption kritisieren.

Stiegnitz: Eigentlich hätte schon vor den jüngsten Ereignissen auch der Letzte merken müssen, daß wir in puncto "multikulturelle Gesellschaft" das Ende der Fahnenstange erreicht haben. Um so unverständlicher ist mir dieser Appell. Daß so viele immer noch an diesem Konzept festhalten, ist wohl nur damit zu erklären, daß es sich dabei um eine Art Ideologie handelt - und die ist bekanntlich weitgehend "realitätsresistent".

Sie haben dagegen in einem wenige Tage vor Ausbruch der Karikaturen-Unruhen veröffentlichten Zeitungsaufsatz festgestellt: "Das Konzept der Multikulturalität ist auf allen Ebenen gescheitert."

Stiegnitz: Ja, denn seine Grundannahme ist falsch. Die Wahrheit ist: Gesellschaften bedürfen gemeinsamer, nicht multipler übergeordneter Werte.

"Im Ausland ist die Diskussion schon weiter als hierzulande"

Auch in den Reihen von Grünen und SPD gibt es bereits einzelne, die nicht nur von einer Anpassung der multikulturellen Grundsätze sprechen, sondern von ihrem Scheitern. Etwa die Düsseldorfer Grünen-Bürgemeisterin Doris Janicki oder der Berliner SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Beide wurden jedoch schließlich von ihren Parteien genötigt, ihre Aussagen teilweise zu revidieren.

Stiegnitz: Der Göttinger Sozialwissenschaftler Bassam Tibi sagt: "Der Multikulturalismus ist schon lange tot." (Siehe auch Dokumentation im Kasten unten.) Er muß sich dafür nicht entschuldigen. Das hat wohl etwas damit zu tun, daß er den Vorteil genießt, nicht-deutscher Herkunft zu sein, außerdem ist er in keiner Partei. Aber schauen Sie nur mal ins Ausland: nach Frankreich, Holland oder eben Dänemark. Während hierzulande die Diskussion noch im ideologischen Sumpf steckt, ist man dort schon viel weiter.

Bezeichnend für die inneren Widersprüche der multikulturellen Gesellschaft ist allerdings nicht der Streit um die Mohammed-Karikaturen, sondern zum Beispiel die Aufstände in den Pariser Vorstädten. Diese werden jedoch vielfach als Folge gerade einer mangelnden Multikulturalität der Integrationspolitik gedeutet.

Stiegnitz: Da scheint mir die Weltanschauung der Vater des Gedankens zu sein. Daß die Ereignisse die Folgen einer verfehlten Ausländer- und Migrationspolitik sind, stimmt ja. Nur handelt es sich bei dieser verfehlten Politik um die des Multikulturalismus.

Sie sprechen davon, daß sich "der Multikulturalismus längst gegen uns selbst gerichtet" habe.

Stiegnitz: Indem wir die Werte der Aufklärung extensiv ausdehnen und gleichzeitig die offene Gesellschaft propagieren, öffnen wir ein riesiges Einfallstor. Nun stellen wir verwundert und hilflos fest, daß wir der Einwanderung einer islamischen Kultur, die unsere Werte weder teilt noch zu achten bereit ist, nichts entgegenzusetzen haben.

Erstaunlicherweise stehen allerdings vor allem Werte zwischen uns, die man eigentlich im guten Sinne als "alteuropäisch" bezeichnen könnte: wie die Autorität der Familie, der Tradition, der Religion.

Stiegnitz: Es ist Teil unseres Problems, daß wir die Stärke unserer eigenen kulturellen Tradition vergessen haben. Ohne seine religiöse Tradition wäre etwa das Judentum unter dem mörderischen Druck seiner Feinde längst untergegangen.

Wer aber spricht von christlich-abendländischer kultureller Identität? Politik, Journalisten und die meisten Intellektuellen reden ausschließlich von "westlichen Werten".

Stiegnitz: Und das ist ein Fehler! Wenn ich einem Moslem auf seinen Vorwurf hin, die Kultur der Europäer sei nicht zu achten, weil sie etwa Gott nicht achte, erwidere: "Aber wir haben das Briefgeheimnis!", so beeindruckt ihn das nicht im mindesten. Was hilft es, daß wir um die Bedeutung dieser außerordentlichen Errungenschaft wissen? Die abstrakten Werte der Aufklärung sind hier nicht vermittelbar. Deshalb muß Europa auch noch mit etwas anderem aufwarten: mit der Kraft seines christlich-jüdischen Erbes.

Dann befinden wir uns in einem Dilemma: Denn das christlich-jüdische Europa steht teilweise im Widerspruch zum laizistischen Europa - und mitunter "an der Seite" des Islam. So konnten sich überzeugte Christen in der Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen mitunter eher mit dem beleidigten Islam identifizieren als mit denen, die eine ethisch ungebundene Pressefreiheit propagieren.

Stiegnitz: Wenn wir Europa allein aus seinen aufklärerischen Werten heraus verstehen, verlieren wir als Kultur den Boden unter den Füßen. Bassam Tibi zum Beispiel beschreibt einen solchen Prozeß, wenn er auf das Phänomen hinweist, "Islamisten gewähren zu lassen, die behaupten, daß es keine Gleichheit zwischen Mann und Frau gibt. Das ist keine Toleranz, sondern Indifferenz." Dies zeigt, daß Werte eine kulturelle Verwurzelung brauchen, um nicht beliebig zu werden. Ist das nicht mehr gegeben, kann es zu solchen Widersprüchen wie im Fall der Mohammed-Karikaturen kommen, wo sich Freiheit und Verantwortung zu weit voneinander entfernt haben.

Der Multikulturalismus wird allerdings, auch wenn er in jeder Hinsicht scheitert, so lange als Leitidee nicht abgelöst werden, so lange kein Gegenkonzept etabliert wird.

Stiegnitz: Ich orientiere mich bei meiner Arbeit an den beiden Modellen, die in Europa von den zwei führenden ehemaligen Kolonial- und Einwanderungsländern erprobt worden sind: Das englische Modell der "akzeptierten Differenz" - also den Einwanderern möglichst viel Autonomie zu gewähren und zu hoffen, daß sie dies mit Loyalität gegenüber dem Staat entgelten werden - und das französische Modell der Vollintegration, das die Anwesenheit von Menschen mit fremder Kultur schlicht leugnet und alle einfach zu Franzosen erklärt hat. Dadurch komme ich zu einem Drei-Stufen-Modell als Kompromiß: Es fordert die Integration in den öffentlichen Raum, läßt den Einwanderern jedoch auch privaten Raum, um für sich ihre Kultur zu pflegen.

Also eine Variante der Leitkultur?

Stiegnitz: Weder Multikultur noch "Leidkultur", wie ich den Zwang zur totalen Assimilation nennen würde, sondern in der Tat der Mittelweg der Leitkultur.

"Grundlegende Kehrtwende unserer bisherigen Politik"

Soweit ist man in der Bundesrepublik noch nicht. Hierzulande setzt beispielsweise die Union noch nach eigenem Bekunden auf Varianten der "Multikultur". Und mit einem Begriff wie Leitkultur setzen Sie sich gesellschaftlich dem Vorwurf des "Rechtsradikalimus" aus.

Stiegnitz: Keine Sorge, das wird sich mit zunehmender Krisenhaftigkeit der Gesellschaft - nicht zuletzt dank des Konzepts der Multikultur - langsam, aber sicher legen.

Wie sieht Ihre Drei-Stufen-Alternative zum Multikultur-Konzept konkret aus?

Stiegnitz: Zunächst befindet sich der Einwanderer im Zustand der ursprünglichen, der "Rucksack"-Kultur, also der Kultur, die er ererbt mitbringt. Wenn der Einwanderer in diesem Zustand verharrt, bleibt er ein Fremdkörper. Statt dessen muß er in die Phase der "Interkultur" übergehen, dies ist der Zustand, in dem Einwanderer und Gesellschaft in Beziehung zueinander treten, sich miteinander und aufeinander zu bewegen, noch aber getrennt sind. Die Interkultur mündet schließlich in der "Intrakultur", also der glücklichen Einfügung des Einwanderers in die gesellschaftliche Kultur - allerdings unter Beibehaltung seiner natürlichen Kultur im Privaten.

Was bedeutet das konkret für das Problem der moslemischen Einwanderung nach Europa?

Stiegnitz: Daß sie nur in einer "Dosis" und unter Umständen stattfinden darf, die eine grundlegende Kehrtwendung von unserer bisherigen Politik bedeutet. Masseneinwanderung, Multikultur und Parallelgesellschaften darf es nicht mehr geben! Europa muß lernen, sich wieder als christlich-jüdisches Abendland zu verstehen. Erst müssen wir das wieder lernen und dann die Zuwanderer.

 

Prof. Dr. Peter Stiegnitz: Der Migrationssoziologe und Publizist lehrt als Gastprofessor an der Universität Budapest. Er studierte Soziologie, Psychologie und Ethnologie und war als Ministerialrat im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Der Autor zahlreicher Bücher ist außerdem wissenschaftlicher Kurator der Wiener Sektion der Forschungsgesellschaft für das Weltflücht-lingsproblem in Vaduz. Geboren wurde er 1936 in Budapest.

 

Wichtigste Veröffentlichungen: "Die Neuen. Ausländerassimilation in Österreich" (Edition Atelier 1994), "Heimat zum Nulltarif. Integration ist keine Einbahnstraße" (Edition Va Bene, 2000), "Das fünfte Gebot. Eine Geschichte der Gewalt" (Edition Va Bene, 2005)

Moslemische Mädchen in Mannheim: "Europa ist Abendland, erst müssen wir das wieder lernen, dann die Zuwanderer" Foto: Picture-Alliance / dpa

 

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