© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Last der Entscheidung
Luftsicherheit: Verfassungsrecht kann Politikerhandeln nicht vorwegnehmen
Friedrich Karl Fromme

Das Bundesverfassungsgericht hat am 15. Februar einstimmig entschieden, daß die Bestimmung im Luftsicherheitsgesetz verfassungswidrig sei, wonach ein Flugzeug, das Terroristen in einem Wohngebiet abstürzen lassen wollen, vorher durch deutsches Militär abgeschossen werden darf. In dem Urteil sahen manche eine so schwere "Niederlage" des Gesetzgebers, daß die rot-grüne Koalition, die das Gesetz beschlossen hatte, daran zerbrochen wäre, wenn sie das Urteil noch erlebt hätte. Doch das ist übertrieben. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß in manchen Fällen die schlechthin richtige Regelung nicht zu erreichen ist.

Jetzt steht die Große Koalition von Union und SPD vor der Frage, was zu tun sei. Die Union hätte es damals vorgezogen, das Unterfangen hinter dem Schutzwall einer Verfassungsänderung zu sichern. Das vertritt auch heute wieder der Unionspolitiker Wolfgang Schäuble, der jetzt als Innenminister für die Sicherheit, aber auch für die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechtsstaatlichkeit zuständig ist.

Ein formales Bedenken, ob dieser Weg gegangen werden sollte, liegt darin, daß die Große Koalition zwar im Bundestag über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit verfügt, daß eine solche Mehrheit aber im Bundesrat nicht mit Gewißheit vorausgesetzt werden kann. Die FDP könnte in den vier Ländern, in denen sie mitregiert - teils mit der CDU, teils mit der SPD - darauf bestehen, daß die Landesregierung sich im Bundesrat der Stimme enthält. Helfen könnte der FDP die PDS, die in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin an der Regierung beteiligt ist - auch sie könnte die Landesregierungen zur Stimmenenthaltung zwingen.

Vor allem aber ist das Urteil daraufhin zu prüfen, ob die Anstrengung einer Verfassungsänderung zum gewünschten Erfolg führen kann oder ob es Hinweise darauf enthält, daß das Verfassungsgericht einem neuen Luftsicherheitsgesetz insoweit Freifahrt gewährt, daß eine Grundgesetzänderung alles heilen würde. Belegstellen für Zweifel daran enthält das Urteil nicht. Aber die Gründe, die das Gericht für die Nichtigkeit des Luftsicherheitsgesetzes angeführt hat, sind von so grundsätzlicher Art, daß eine Gewißheit, mit einer Verfassungsänderung vor allen verfassungsgerichtlichen Gefahren bewahrt zu sein, nicht herzuleiten ist.

Der Gesetzgeber täte gut daran, wenn er die Hinweise im Urteil aufnähme, daß der Ton besser nicht auf einem Einsatz der Bundeswehr im Inneren läge. Man darf annehmen, daß die Bedenken des gestrengen Gerichts schwächer wären, wenn die Zuständigkeit der Länder für die öffentliche Sicherheit und die vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung sorgfältig beachtet würde, so wie es jetzt schon ist im Fall einer Katastrophe oder eines schweren Unglücks. Wenn solche die Kräfte von Bundesländern überschreiten, können sie im Wege der Amtshilfe die Unterstützung der Bundeswehr anfordern (Artikel 35 Grundgesetz). Wenn die Gefahrenlage sich über mehrere Länder erstreckt, kann auch die Bundesregierung über den Einsatz von Bundeswehr entscheiden.

Aber das Urteil hat seinen Ausgangspunkt tief im Grundsätzlichen. Der Kernsatz ist, daß die Inkaufnahme der Tötung unschuldiger Menschen, also der entführten Insassen eines Flugzeuges, "als Mittel zur Rettung anderer" nicht in Betracht komme. Das Verfassungsgericht führt hier seine Ausführungen zur Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch von 1975 weiter. Die Unverfügbarkeit des Menschen wird aus seinem Grundrecht auf Menschenwürde hergeleitet, also aus Artikel 1 des Grundgesetzes, der von dem Verfassungskommentator Günter Dürig als das "materielle Hauptgrundrecht" bezeichnet wurde.

Ein wenig wirklichkeitsfremd wirkt es, wenn das Gericht herausarbeitet, daß Bedenken dann nicht gegeben seien, wenn das Abschießen eines zur Tatwaffe umfunktionierten Flugzeugs nur solche Personen träfe und treffen könnte, die an der Entführung des Flugzeugs beteiligt sind. Wenn das je einmal der Fall sein sollte, wird es sich kaum hinreichend exakt feststellen lassen.

In jedem Falle bleibt das Risiko, daß der Gesetzgeber eine nach Auffassung des Gerichts "verfassungswidrige Verfassungsnorm" erlassen könnte. Eine Verfassungsvorschrift kann selbst verfassungswidrig sein wegen des allgemeinen Verbots, ein Grundrecht in seinem "Wesensgehalt" anzutasten (Artikel 19 GG). Das wird auch hergeleitet aus der Unabänderlichkeit zumal des Artikels 1 über die Menschenwürde selbst für den verfassungsändernden Gesetzgeber (Artikel 79 GG).

Ein verfassungsrechtliches Restrisiko bleibt also. Somit spricht einiges dafür, daß der Gesetzgeber seine Hand von dem Unterfangen läßt, diesen Grenzfall, in dem der Schutz von Leben durch die Preisgabe von Leben erreicht wird, zu regeln. In diesem äußersten Fall sollte schließlich doch der höchste erreichbare Amtsträger in eigener Verantwortung handeln. So bleibt bei ihm die Verantwortung für ein Unrecht, durch das Recht hergestellt wird.

Auch das Verfassungsrecht kann den handelnden Politiker in Grenzsituationen von der Last der Entscheidung durch verläßliche und genaue Vorgaben nicht befreien. Der Betreffende müßte sich nachträglich rechtfertigen - ob vor einem Gericht oder vor der Medien-Öffentlichkeit, in jedem Fall vor seinem eigenen Gewissen.

"Es spricht einiges dafür, daß der Gesetzgeber seine Hand von dem Unterfangen läßt, diesen Grenzfall, in dem der Schutz von Leben durch die Preisgabe von Leben erreicht wird, zu regeln."


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