© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

"Einige Todesfälle infolge von Unterernährung"
Jurij Schapowal erinnert an den vergessenen Genozid der dreißiger Jahre, als bis zu sechs Millionen Ukrainer durch Stalins Hungerpolitik sterben mußten
Ekkehard Schultz

In Zusammenarbeit mit der Botschaft der Ukraine in Deutschland lud das Berliner Museum am Checkpoint Charlie am 6. Februar 2006 in seinen Räume zu einem Vortrag zum Thema "Hungersnot in der Ukraine 1932-1933 - Genozid am ukrainischen Volk anerkennen" ein. Im Mittelpunkt des Referats von Jurij Schapowal, Leiter des Zentrums der historischen Politologie am Institut für politische und ethnonationale Forschungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, stand die Frage, warum dieser Völkermord, der nach neuesten wissenschaftlichen Schätzungen mindestens fünf bis sechs Millionen Menschen das Leben kostete, innerhalb der Sowjetunion so lange unterdrückt werden konnte und auch im Westen kaum thematisiert wurde.

Bereits zu Beginn der dreißiger Jahre war die "Kornkammer" des Sowjetimperiums mit Getreideabgaben stark überlastet worden. Auch wurde 1931 in der Ukraine deutlich weniger Getreide aufgebracht als in Vorjahren. Da aber die im Plan vorgesehenen Abgaben dennoch nicht gesenkt wurden, obwohl die Erfüllung unmöglich war, starben bereits 1931 etwa 150.000 Menschen an Hunger und Unterernährung.

Die Kreml-Führung zog aus den Ergebnissen des Vorjahres im April 1932 jedoch nicht etwas die Konsequenz, das Plansoll zu senken. Vielmehr wurde der Beschluß gefaßt, im Jahr 1932 die Vorgaben durchzusetzen und das Getreide unter allen Umständen zu "beschaffen". Schuld an den Zuständen von 1931 - so die Moskauer KP-Führung - trügen in einigen Bezirken einzig und allein die örtlichen Führer.

Doch bereits Ende April 1932 wurde aus der Ukraine nach Moskau gemeldet, daß in zahlreichen Dörfern Hunger herrsche. Der Bitte, die Abgaben auf ein verträgliches Maß zu senken, kam die Kreml-Führung jedoch nicht nach. Sie argumentierte vielmehr, daß die Klagen vollkommen unberechtigt seien, denn die Bauern besäßen noch große Bestände, die sie jedoch privat vor dem Zugriff des Staates verbürgen. Jedes "Gerede" über Hunger sei daher zurückzuweisen.

Für die praktisch unübersehbare Notsituation machte die Parteiführung erneut die örtlichen Parteiorgane verantwortlich. Als Konsequenz schloß sie einzelne Mitglieder aus der Kommunistischen Partei der Ukraine aus und leitete gegen sie Gerichtsverfahren wegen Sabotage und Fehlern bei der Getreidebeschaffung ein. Nahezu komplett wurden die Sekretäre der betroffenen Rayons ausgetauscht. Alle diese Maßnahmen änderten an den Ursachen der tatsächlichen Hungersnot freilich nicht das Geringste.

In westlichen Medien wurde verharmlosend berichtet

Die letzte Chance vor der drohenden Katastrophe stellte die Parteikonferenz im Juni 1932 dar. Einige Mitarbeiter der Rayons versuchten, die Situation objektiv zu schildern, und betonten dabei deutlich, daß es sich keineswegs nur örtliche Fälle handelte. Doch die Abgesandten Stalins interessierten diese Einwände nicht. Statt dessen warfen sie den Delegierten aus der Ukraine vor, sich nur "das Leben erleichtern zu wollen".

Im November 1932 war endgültig deutlich, daß die hohen Abgaben in der Ukraine auf keinen Fall erfüllt werden könnten. Doch in einem Brief Stalins an Kaganowitsch - der jetzt erst nach siebzig Jahren publiziert wurde - lastet der oberste Kreml-Herr die Schuld an dieser Situation der "schlechten Arbeit der Partei in örtlichen Strukturen" und den lokalen GPU-Kadern zu. Zudem stellte Stalin die Parteiorganisation der Ukraine generell in Frage. Er behauptete, daß "diese Leute" eine Front "gegen die russische Führung eröffnen" könnten. Als Konsequenz forderte Stalin, die Ukraine "in eine Festung" zu verwandeln, um ihr die Möglichkeit zu geben, eine "vorbildliche Republik" zu werden.

Auf alle Fälle sollte verhindert werden, daß das Ausland Kenntnis von der Katastrophe erhielt. So leugnete Außenminister Litwinow im März 1933 gegenüber der ausländischen Presse, daß überhaupt eine Hungersnot existierte. Trotzdem konnte zunächst nicht verhindert werden, daß einige Korrespondenten westlicher Zeitungen in der Ukraine Augenzeugen der dort herrschenden Zustände wurden. Aus diesem Grund entschloß sich die Kreml-Führung, ab sofort Reisen ausländischer Korrespondenten auf dem Territorium der UdSSR nur nach vorheriger Anmeldung bei der zuständigen Zivilverwaltung zu gestatten sowie auch nur den Besuch bestimmter Regionen zu erlauben.

Die Folge dieser Regelung war, daß in den westlichen Medien zumeist verharmlosende Berichte erschienen. So schrieb ein Korrespondent der New York Times in einem Artikel im April 1933: "Es gibt in der Ukraine keinen wirklichen Hunger. Allerdings gibt es einige Todesfälle infolge von Unterernährung." Allerdings benannte der Autor des Berichtes neben diesen Beschönigungen auch die tatsächliche Ursache für die "Nahrungsmittelknappheit": Die Sowjetunion exportiere Getreide in großen Massen zu Dumpingpreisen in den Westen, um an dringend benötigte Transferwährung zu gelangen.

Um diese unangenehme Wahrheit zu unterdrücken, beschloß der Kreml erneut rasch Gegenmaßnahmen: Prominente westliche Vertreter - darunter der irische Schriftsteller George Bernard Shaw - wurden eingeladen, um sich vor Ort "ein Bild von den wahren Zuständen" zu machen. Und die Gäste ließen sich täuschen: So richtete Shaw wenige Tage später in der Prawda einen Appell an die westlichen Staaten, in denen wegen der möglichen Mitschuld an einer Katastrophe überlegt wurde, den Import von Getreide aus dem Gebiet der Sowjetunion zu stoppen bzw. zu verringern. Shaw schrieb, daß die Gerüchte von einer Hungersnot in der Ukraine jeglicher Grundlage entbehrten. Es sei daher "schlecht, wenn die Sowjetunion das Getreide nicht verkaufen" könnte, da es im Lande "eine so reiche Ernte" gebe, daß ein "Verzehr aller Lebensmittel gar nicht möglich" sei.

Hungersnot sei Erfindung bourgeoiser Nationalisten

Anfang 1934 kam es zu gravierenden Kaderveränderungen in der Kommunistischen Partei der Ukraine. Die Partei wurde umfassend von vermeintlichen ukrainischen Nationalisten "gesäubert", auch die Kader der Geheimpolizei wurden in diesen Prozeß einbezogen. Über 1.200 "Konterrevolutionäre" wurden in diesem Prozeß getötet, über 200.000 überlebende Bauern aus den Kolchosen "herausgesäubert". Die in diesem Zuge verhafteten und verurteilten Personen boten ein umfangreiches Kontingent an Menschen, denen man die Schuld an der Katastrophe anlasten konnte. Nach Auffassung von Schapowal stellt wegen der engen Verwandtschaft dieser Säuberungen zu denen der russischen KP nach der Ermordung Kirows Anfang 1934 daher die Hungersnot den eigentlichen Ausgangspunkt für den Großen Terror der Jeschow-Ära dar.

In der Sowjetuninon bleib die Hungersnot auch noch Jahrzehnte nach den Vorgängen ein Tabuthema. Aber auch im Westen wurde dieses Thema kaum beachtet. Erst russische Dissidenten und Exil-Schriftsteller wie Alexander Solschenizyn erinnerten in den sechziger und siebziger Jahren an das verschwiegene Kapitel. Einen wichtigen Schritt in der Wahrnehmung des Westens bedeutete aber erst die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Erforschung der Hungersnot durch US-Präsident Ronald Reagan zu Beginn der achtziger Jahre. Reagan erhoffte sich von den Ergebnissen einen moralischen Sieg im Zeichen seiner Politik der Stärke. 1987 wurde der erste Bericht der Untersuchungskommission im Westen verbreitet.

In der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Oktober 1983 bezeichnete der Vertreter der Sowjetunion im Oktober 1983 die Hungersnot noch als eine "Erfindung bourgeoiser Nationalisten, die Hitler gedient haben". Einige zeitgenössische Fotos aus der Ukraine stellten nicht die dortigen Hungeropfer, sondern "hungernde Menschen in deutschen KZs" dar. Erst in der Gorbatschow-Ära wurden die offenkundigen Fakten weitestgehend anerkannt.

Im heutigen Rußland unter Putin ist die Hungersnot in den russischen Lehrbüchern und der Öffentlichkeit erneut kein Thema von Belang. In der Ukraine erschien dagegen in den letzten Jahren eine Reihe von Publikationen, die sich diesem Thema widmeten. Heute hat die Hungersnot auch eine große Bedeutung für die Festigung und Konsolidierung der ukrainischen Nation.


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