© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

Prinzipien ohne doppelte Moral
Eine Streitschrift des US-Politologen Norman Finkelstein zum israelisch-palästinensischen Konflik
Alfred de Zayas

C hutzpah" meint im Jiddischen etwas zwischen "Frechheit" und "Unverschämtheit". Das Wort findet sich inzwischen im Oxford English Dictionary und avancierte in Amerika sogar zum Modewort mit positivem Unterton, nämlich "Kühnheit". In diesem Sinne betitelte der umstrittene Harvard-Rechtsprofessor Alan Dershowitz, Strafverteidiger von O. J. Simpson (erfolgreich) und Mike Tyson (ohne Erfolg), seine Autobiographie "Chutzpah". Seine Nemesis heißt Norman Finkelstein, der Politikwissenschaften an der DePaul University in Chicago lehrt.

Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden, die nach Amerika auswanderten, wuchs in New York auf und setzt sich seit seiner Dissertation für einen gerechten Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern ein. Zusammen mit Ruth Bettina Birn schrieb er das bedeutende Buch "A Nation on Trial" (1998), das die Thesen von Daniel Goldhagen vernichtend kritisierte, dann folgte sein Bestseller "Die Holocaust-Industrie" (Piper), in welchem er die pietätslose Kommerzialisierung des Leidens der Juden anprangerte. Nun rechnet er mit Dershowitz ab, dem führenden publizistischen Anwalt des Zionismus in Amerika. In neun Kapiteln und drei Anlagen beschäftigt sich Finkelstein vor allem mit Dershowitz' Thesen in dessen Buch "The Case for Israel" (2003), das in Tausenden von Exemplaren vom israelischen Außenministerum gekauft und verteilt wurde. Der Titel der neuen Streitschrift Finkelsteins "Jenseits von Chutzpah" erklärt sich aus seiner Empörung über Dershowitz' Versuch, die Folterpraxis der israelischen und amerikanischen Militärs und Geheimdienste, die gezielten Tötungen von Palästinensern, den "collateral damage" und die Tötung Tausender palästinensischer Zivilisten einschließlich Kindern (im Verhältnis von zwanzig palästinensischen auf ein israelisches Opfer), die Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern seit 1947 und die Zerstörung ihrer Häuser zum Zwecke der Errichtung jüdischer Siedlungen oder der Mauer zu rechtfertigen.

Ein Teil des Buches von Finkelstein besteht aus einer gründlichen Analyse und Widerlegung der Thesen von Der-showitz, und es gelingt ihm, eine Reihe eklatanter sachlicher Fehler und Manipulationen nachzuweisen. Akribisch zeigt Finkelstein, wo Dershowitz Fakten verbiegt und was er verschweigt, und bezichtigt ihn, das inzwischen als unwissenschaftlich geltende Machwerk von Joan Peters "From time Immemorial" (1984) plagiiert zu haben.

Gewiß gibt das Dershowitz-Buch Anlaß zum Widerspruch, aber Finkelstein geht darüber hinaus, um dem Leser fundamentalere Fragen zu stellen. Schließlich geht es nicht um die intellektuelle Redlichkeit eines Harvard-Professors, sondern um den Frieden im Nahen Osten und um das Wissen und die Weisheit, die notwendig sind, um das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. Hierzu liefert Finkelstein eine Fülle belegbarer Fakten über die jüdische Siedlungspolitik seit der Balfour-Deklaration (1917) und jeweils nach der Peel Commission (1937), der Teilungs-Resolution der Uno (1947), der Sicherheitsrat-Resolution 242 (1967), Camp David (2000), Taba (2001) sowie der ersten (1987-93) und der "Al-Aqsa"-Intifada (seit 2000).

Finkelstein setzt sich für eine klare Abgrenzung zwischen einer legitimen Kritik an der Politik Israels und dem vulgären Rassismus oder Antisemitismus ein. Er illustriert, wie der Vorwurf des Antisemitismus unter anderem durch die amerikanischen Medien und durch die "Anti-Defamation League" zum Zwecke der Einschüchterung in der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert wird, was die notwendige offene Diskussion über eine friedliche Lösung im Nahen Osten erheblich erschwert.

Nützlich erweisen sich Finkelsteins Auswertung der Jahresberichte von Amnesty International 1991-1999 mit entsprechenden Zitaten, zahlreicher Berichte von Human Rights Watch, Berichten der israelischen Nichtregierungs-Organisation B'Tselem (Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories), des Uno-Sonderberichterstatters für die Israelisch Besetzten Gebieten, John Dugard, des Uno-Sonderberichterstatters für Folter, Nigel Rodley, sowie seine Hinweise auf die Diskussionen in Plenarsitzungen der Menschenrechtskommission und auf Publikationen von David Kretzmer, ehemaligem Mitglied des Uno-Menschenrechtsausschusses ("The Occupation of Justice"), und Edward Said ("The Question of Palestine"). Zu bedauern ist, daß Finkelstein die einschlägigen Berichte und Schlußfolgerungen des Menschenrechtsausschusses und des Ausschusses gegen die Folter der Uno kaum berücksichtigt, auch nicht die Berichte des Center for Housing Rights and Evictions (COHRE), die seine Argumente noch weiter untermauern würden. Eine Diskussion der Genf-Initiative von 2003 und der Roadmap des Quartetts hätte die Analyse abgerundet. Zwar fehlt ein Literaturverzeichnis, doch sind alle Quellen in den mehr als 500 ausführlichen Fußnoten zu finden.

Die bisherigen Rezensionen des vorliegenden Buches sind überwiegend anerkennend (Neue Zürcher Zeitung oder Times). Bislang sind die von ihm angeführten Fakten von keiner Seite widerlegt oder seine wissenschaftliche Methodologie entkräftet worden. Die Kritik (Jerusalem Post, Jewish Chronicle UK) ist ad hominem gerichtet. Er wird als "Verräter" und Antizionist bezeichnet. Dies stört Finkelstein ebensowenig wie der Vorwurf, daß er "Beifall von der falschen Seite" bekommt. Eigentlich wendet er diesen Vorwurf gegen seine Kritiker um, wenn er geltend macht, er schreibe vor allem deswegen, weil die "gute Seite" es versäumt habe, die entscheidenden Fragen anzupacken.

Finkelstein protestiert nämlich gegen die lähmende politische Korrektheit in den amerikanischen Universitäten, und es gelingt ihm, fundamentale Probleme des Zeitgeistes zu verdeutlichen. Wie kommt es, daß wissenschaftlich fehlerhafte Bücher wie jene von Peters, Goldhagen und Dershowitz Bestseller werden können? Wie können sich Professoren an renommierten Universitäten nicht nur wissenschaftliche Manipulationen, sondern auch Plagiate ohne Konsequenzen leisten? Wie ist es möglich, daß trotz der kritischen Beurteilung durch unabhängige seriöse Beobachter der menschenrechtlichen Lage in Israel und den besetzten Gebieten die politische Führung Amerikas die gebotenen Schlußfolgerungen ignoriert und die faktische Kolonisierung Palästinas durch israelische Siedler deckt und finanziert, einschließlich der berüchtigten Trennungs-Mauer? Warum werden Israels permanente Verstöße gegen etliche Resolutionen der Vereinten Nationen und sogar gegen das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 9. Juli 2004 nicht geahndet?

Es lohnt sich, dieses Buch ein zweites Mal durchzulesen und darüber nachzudenken, welche Konsequenzen für den politischen Alltag notwendig sind, insbesondere in der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union. Vielleicht sollte die EU versuchen, Einfluß auf Israel zu nehmen, und verlangen, daß die Uno-Resolutionen in die Tat umgesetzt und die Feststellungen des Internationalen Gerichtshofes respektiert werden. In der Tradition seines Mentors Noam Chomsky mahnt uns Finkelstein, unsere Prinzipien ohne doppelte Moral zu behaupten. Eine deutsche Übersetzung des Buches ist für März 2006 im Piper Verlag unter dem Titel "Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Mißbrauch der Geschichte" angekündigt.

 

Prof. Dr. Alfred de Zayas ist Völkerrechtler, ehemaliger Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses und Autor der Bücher "Die Nemesis von Potsdam" und "Heimatrecht ist Menschenrecht".

 

Palästinenserinnen gehen an Sperrmauer in Abu Dis (Ost-Jeru-salem) entlang: Von der politischen Führung Amerikas gedeckt

Norman G. Finkelstein: Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, Berkeley 2005. (Deutsch: Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Mißbrauch der Geschichte. Aus dem Englischen von Maren Hackmann. Piper Verlag, München 2006, 400 Seiten, gebunden, 19,90 Euro)


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