© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

Die Macht des unbedingten Willens
Tom Segev beschreibt quellengesättigt den Weg Israels von der zionistischen Idee bis zur Staatsgründung im Jahr 1948
Bernd Rabehl

Tom Segev legt ein einzigartiges und ein informatives Buch vor. Er erschließt die Staatswerdung Israels zwischen 1917 und 1948 über die unterschiedlichen Quellen. Er benutzt Tagebuchaufzeichnungen, Liebesbriefe, Memoiren, Notizen, Zeitungsartikel, Gedichte, Skizzen, aber vor allem auch Dokumente der Protagonisten dieser Zeit. Britische Minister, Generäle, Ingenieure, Verwaltungschefs und Diplomaten kommen ebenso zu Worte wie die zionistischen Parteigänger und ihre arabischen Kontrahenten, normale Bürger, Dichter, Schriftsteller und Journalisten.

Diese vielfältigen Hinweise wollen entschlüsseln, warum die zionistischen Politiker einen derartig starken Einfluß auf die britische Diplomatie besaßen und was die Motive dieser Großmacht waren, 1917 in Palästina gegen das Osmanische Reich zu intervenieren und die Weichen zu stellen für die Gründung eines jüdischen Staates, der eindeutig gegen die Mehrheitsinteressen der Araber und der anderen Völker, die hier siedelten, Stück für Stück geschaffen werden sollte. Tom Segev will deutlich machen, daß hier keine "Verschwörung" zwischen den zionistischen Juden und der britischen Politik vorlag, sondern Zufälle, Sympathien, eigenartige Kombinationen von Antisemitismus und Philosemitismus, Korruption und die Unfähigkeit der arabischen Akteure, klare Interessen und Ziele zu formulieren, den Weg bereiteten. Er unterstreicht zugleich den Willen der Zionisten, Tatsachen zu schaffen, um auf "geweihter" Erde, im "gelobten Land" und nicht irgendwo in Afrika oder Asien Schritt für Schritt einen Staat aufzubauen, der den weltweit verstreuten Juden nach Jahrtausenden der Verlorenheit eine eigene "Heimstatt" und Staatlichkeit geben konnte. Erst dadurch würde dieses Volk sich zur Nation gestalten und zur Weltmacht aufsteigen können.

Über die vielen konkreten Geschichten, Ereignisse und Hinweise gerinnt die konkrete Darstellung irgendwie zu einer Theorie des "israelischen Staates". Das beabsichtigt Tom Segev gerade nicht. Er will jede Mythologisierung, Verallgemeinerung oder die immanente Notwendigkeit von Geschichte vermeiden. Vor allem will er deutlich machen, daß es im banalen Sinn keine "Verschwörung" gab. Hier schreibt ein Empiriker, der deutlich machen will, daß die Akteure zwar Einsichten, Willen und auch Ziele verfolgten, die zu dem bekannten Ergebnis geführt haben. Es hätte durchaus anders kommen können. Die britische Militärverwaltung hätte die Sympathien für die Juden und den Zionismus aufgeben können. Der Antisemitismus breitete sich unter Politikern, Offizieren und Soldaten sehr bald aus, vor allem zum Zeitpunkt des wachsenden Terrorismus jüdischer Gruppen nach 1940 gegen die britische Besatzungsmacht.

Genauso hätte der arabische Aufstand von 1939 gelingen können, der gegen die jüdische Staatsgründung und gegen die britische Mandatsverwaltung mit großer Radikalität und Opfermut ausgetragen wurde. Auch das deutsche Afrikakorps hätte den Weg nach Palästina freikämpfen können, oder die zionistischen Organisationen hätten 1948 nicht die Kampfkraft besessen, die arabische Übermacht zu besiegen. Der Erfolg des Zionismus, seine Radikalität, die politische und militärische Stärke waren die Grundlagen des Erfolgs. Die Staatsgründung als das Ergebnis von historischen Ereignissen und Verwicklungen gab nun der konkreten Geschichte eine "Logik", die auf eine Philosophie des jüdischen Staates zu verweisen schien.

Um dieses empirische Großwerk fertigzustellen, hat Tom Segev eine Vielzahl von Bibliotheken und Archive, vor allem in USA, Großbritannien, Spanien, Frankreich und Israel aufgesucht. Er hat die Nachlässe der unterschiedlichen Persönlichkeiten aufgespürt, die das Geschehen beobachtet und kommentiert hatten. Vor allem die vielen Briefe, Biographien und Tagebücher waren Fundstellen. Nach fünfzig Jahren wurde auch ein Teil der diplomatischen und staatlichen Dokumente freigegeben, so daß Segev neue Zusammenhänge aufspüren konnte. Die Danksagung und vor allem der Anhang belegen den großen Fleiß des Historikers und seiner Mitarbeiter.

Die diplomatischen Ziele, die in der britischen Staatsadministration nach 1914 verfaßt wurden, die Intervention britischer Truppen in Palästina gegen die Armeen des Osmanischen Reiches begründen sollten und die schließlich in der Deklaration des Außenministers Arthur James Balfour zusammengefaßt wurden, wiesen auf einen "Pakt" hin, der zwischen der britischen Politik und dem Zionismus geschlossen zu sein schien. Segev nennt sein zweites Kapitel deshalb "Ein Pakt mit dem Judentum". Der Außenminister sprach zwar vorsichtig von einer "Heimstatt" für die Juden, die in Palästina geschaffen werden sollte. Der Postminister Herbert Samuel hatte in einem Memorandum bereits 1915 darauf hingewiesen, dort einen "jüdischen Staat" zu errichten und eine Vielzahl der Juden der Welt in dieses Gebiet zu bringen, um dort langfristig eine jüdische Mehrheit zu begründen. Mit den Juden, weitgehend gut ausgebildet und Kinder entwickelter Zivilisationen, würden dort "Fortschritt" und "Aufklärung" Einzug halten und den türkisch arabischen "Despotismus" und die "Lethargie" einer Agrargesellschaft überwinden. Würde eine britische Verwaltung in Palästina mithelfen, einen "jüdischen Staat" zu errichten, so wäre ihr die Dankbarkeit des "Weltjudentums" sicher. Ähnlich dachte auch der Kolonialminister Winston Churchill.

Der Premierminister David Lloyd George war sogar überzeugt, daß durch die Staatsgründung ein Gegengewicht zur "jüdisch-bolschewistischen Revolution" in Rußland geschaffen wurde. Er ging zugleich davon aus, daß die Juden die USA veranlaßt hatten, an die Seite Großbritanniens in den Krieg gegen Deutschland einzutreten. Chaim Weizmann redete den britischen Regierungsbeamten ein, daß der Zionismus eine moralische und politische Großmacht in der Welt darstellte und Großbritannien behilflich sein konnte, sein Kolonialreich zu wahren. Er konnte Balfour überzeugen, daß die Rückführung der Juden in ihre angestammte Heimat historisch notwendig war und daß die zionistische Idee schon deshalb den arabischen Positionen überlegen war, weil sie eine Zusammenfassung der liberalen und demokratischen Ziele der bürgerlichen Revolutionen des Westens darstellte. Mit den gleichen Argumenten wurde auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson vom zionistischen Projekt in Palästina überzeugt.

In dieser Aufmachung von zionistischen Positionen und der Uminterpretation der antisemitischen Verschwörungsängste wurden die westlichen Spitzenpolitiker veranlaßt, auf die zionistische Karte zu setzen. Anfang November 1917 wurde die Balfour-Deklaration veröffentlicht. Einen Monat später kapitulierte die türkische Armee, und britische Truppen marschierten in Jerusalem ein.

Sehr schnell wurde aus Militärs und Zivilisten eine Mandatsverwaltung nach rechtsstaatlichen und verwaltungstechnisch modernen Gesichtspunkten errichtet. Der Gouverneur, Ronald Storrs, ein Haudegen und aufgeklärter Despot, schuf eine starke Macht, die durchgreifen würde und den arabischen Widerstand zügeln wollte. Die jüdische Delegation, die sich unter dem Vorsitz von Chaim Weizmann bildete, gründete ein Komitee, das in eine Art zionistische Regierung hineinwuchs und zur britischen Militärmacht eine zivile Doppelherrschaft einführte. Geld kam aus den USA und Europa und die jüdische Kommission verteilte die Spenden und erlangte dadurch Ansehen und Legitimation unter den einwandernden Juden. Sie sorgte zugleich für die produktiven Investitionen in landwirtschaftlichen Betrieben und Kollektiven, in den Landkauf und Häuserbau und in die städtische Wirtschaft. Dadurch wurden die Grundlagen gelegt für ein jüdisches Palästina unter britischer Schutzmacht. Es wurden zugleich Institutionen geschaffen, die die Keimformen eines eigenständigen Staates sein konnten: eine jüdische Legion und eine hebräische Universität.

Die einwandernden Juden besaßen nur bedingt über ihre Religion so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl. Um sich als Volk und Nation zu bewähren, die sich in Recht und Staat verwurzeln konnten, war es notwendig, eine gemeinsame Sprache zu finden, um eine jüdische Kultur zu stabilisieren und den Willen zur Staatsgründung zu unterstreichen. Die hebräische Universität in Jerusalem würde die hebräische Sprache als gemeinsames Band und Sinnbild von Denken neu beleben und durchsetzen und so etwas begründen wie eine jüdische Wissenschaft und Philosophie. Zugleich würde sie das Wissen der Welt aufnehmen und weiterreichen an die Intelligenz der nachwachsenden Generationen. In der Legion wurde der militärische Widerstandswille demonstriert und die jungen Männer und Frauen hineingestellt in die Disziplin und Kampfkraft einer entstehenden Armee, die die Ziele und Ansprüche der Juden als Volk und Staat durchsetzen würde. Die Juden hatten von den deutschen Philosophen Herder, Fichte und Humboldt gelernt, daß ein Volk nur dann eine historische Bedeutung erlangte, wenn es die eigene Kultur und Sprachfähigkeit bewahrte, Anteil hatte an den Weltwissenschaften, eine innere Einheit stiftete und zugleich die Souveränität in Recht und Staat gegen fremde Ansprüche verteidigen konnte.

Die jüdischen Siedler bereiteten sich seit 1917 darauf vor, in Palästina gegen die Mehrheit der Araber die Macht zu übernehmen. Die kontinuierlichen Einwanderungen waren deshalb genauso wichtig wie die Wehrfähigkeit. Die "Arbeiterpartei" unter Ben Gurion war daran interessiert, mit der britischen Mandatsmacht zu kooperieren, während die "Revisionisten" unter Menachim Begin eine Doppelstrategie verfolgten, einen militärischen Druck auf die arabische Mehrheit und auf die britische Besatzungsmacht auszuüben. Es entstanden unterschiedliche militärische Armeeeinheiten und Partisanenverbände, die mit Terroraktionen gegen die Mandatsverwaltung vorgingen. Zugleich existierte ein internes Bündnis zwischen den beiden Parteien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Großbritannien nicht länger bereit, 100.000 britische Soldaten und einen riesigen Verwaltungsapparat in Palästina zu unterhalten. Der Preisgabe der "Kronkolonie" Indien sollte der Abzug aus diesem Gebiet folgen. Die Aufsicht über diese Region wurde den Vereinten Nationen angetragen. Es gab eine Reihe von Staaten, die den Arabern das Land übergeben wollten. Letztlich wurde die "Teilung" angesprochen. Zwei Staaten sollten unter der Aufsicht der Uno entstehen. Zionistische Kreise hatten nach der Beweisführung von Tom Segev viel Geld ausgegeben, um Diplomaten zu bestechen, für diese Entscheidung zu stimmen. Selbst die Sowjetunion gab ihr Votum für diese Lösung, obwohl ein israelischer Staat ein Kind der westlichen Großmächte wäre.

Relativ schnell gab Großbritannien seine Machtpositionen in Palästina auf, so daß Beobachter von einer fluchtartigen Absetzung sprachen. In diesem Machtvakuum beschossen arabische Kämpfer jüdische Busse und Dörfer und fanden sofort die militärische Reaktion der jüdischen Untergrundstreitkräfte, die auf eine derartige Provokation gewartet zu haben schienen. In diesem Kampf zwischen den zwei Völkern siegten die Juden, weil sie besser ausgerüstet waren, eine bessere Taktik verfolgten und hervorragende Kommandanten und Soldaten besaßen. Die Araber setzten auf ein gemeinsames Kommando und vermieden die Verteidigung ihrer Dörfer und Städte. Unfähigkeiten und Korruption zerstörten die Kampfkraft. Es fehlte an Geld und an Waffen. Eine arabische Solidarität gab es kaum. Letztlich stritt eine bäuerliche Mehrheit ohne Sinn für den modernen totalen Krieg mit einem städtischen Volk, das aus den vielen Niederlagen wichtige Lektionen gelernt hatte. Die Araber verließen ihre Siedlungen und Städte und gaben Gebiete frei, in die die jüdischen Kämpfer einrückten. Sie übernahmen zugleich die Verwaltungs- und die Infrastruktur von Wasser- und Elektrizitätswerken, Versorgungseinrichtungen, die die Briten zurückgelassen hatten, und gründeten 1948 aus der Zusammenführung der jüdischen Institutionen und der Mandatsverwaltung den israelischen Staat.

Die konkrete Beweisführung der historischen Entwicklung dieses Staates erinnert tatsächlich an eine "Verschwörung" der Westmächte mit den zionistischen Kreisen, um den Juden die Staatlichkeit zu geben und sie als Volk und Nation zu etablieren. Außerdem erfolgte die Staatsgründung in einer Region, in der andere Völker, vor allem Araber, gelebt hatten. Da dieser Prozeß bereits 1917 einsetzte, hat die Massenvernichtung der Juden durch die NS-Diktatur nur bedingt etwas mit dieser Staatsgründung zu tun.

Der Zionismus hatte durch diesen Staat nicht nur die Mehrheit der Juden der Welt zu einem Volk geeint, er hatte ihnen ein Zentrum gegeben und hatte eine "Großmacht" geschaffen, denn diese jüdische Gesellschaft und Staatlichkeit in Palästina konnte nur überleben, erfuhren sie die Solidarität und Unterstützung Europas und Nordamerikas und waren sie politisch und militärisch in der Lage, in diesem Gebiet den Frieden zu wahren oder den Krieg siegreich zu bestehen. Je mehr die arabischen Kontrahenten ihre archaische Fesselung überwanden und zu modernen Industriegesellschaften und Staaten mutierten, desto wichtiger wurde der Frieden, denn technische und Atomkriege konnten irgendwann vom Staat Israel nicht mehr gewonnen werden. Es mag sein, daß der Stratege Ariel Scharon diese Sicht hatte. Aber so etwas steht nicht mehr im Buch von Tom Segev.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl lehrte Soziologie an der Freien Universität Berlin.

 

Foto: Einwanderer 1949 im Hafen von Haifa drängen nach Israel: Die Mehrheit der Juden der Welt zu einem Volk geeint

Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. Siedler Verlag, München 2005, 672 Seiten, gebunden, Abbildungen, 28 Euro


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