© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/06 10. Februar 2006

Spirale der Perversion
Berliner Ensemble: "Schändung" von Botho Strauß
Thorsten Hinz

In der dritten Aufführung der "Schändung", des neuen Theaterstücks von Botho Strauß, sei es zu "Tumulten" gekommen. Türen hätten geknallt, empörte Zuschauer hätten "Schweine-" und "Nazitheater" gebrüllt. So verbreitete es die Leitung des Berliner Ensembles, nicht ohne Stolz, denn schließlich erhöht ein Skandal ja die Bedeutung des Hauses, unterstreicht seine gesellschaftliche Relevanz, seine Funktion als politischer Seismograph und und und.

Nun, der Schreiber dieser Zeilen saß am 31. Januar selber in besagter Vorstellung, in der neunten Reihe links. Ein Rumoren während der Vergewaltigungsszene kann er bestätigen, auch ein paar Laute, die nach "Schweinerei" klangen. Vom Flur her drang das Gekreische einer Frau an sein Ohr, ebenso das Wort "Nazi", aber das nur, weil er so nahe an der Türe saß. Der Tumult war recht zahm, und um einen Theaterskandal handelte es sich schon gleich gar nicht.

Was erwartet man denn von einer Adaption des blutigsten Shakespeares-Stückes, "Titus Andronicus"? Der erste und letzte Eindruck war, daß Shakespeare Shakespeare bleibt. Die von Strauß erfundene Rahmenhandlung im Einkaufszentrum, Einsprengsel wie die Szene beim Analytiker oder das Gespräch unter Theaterleuten, die die Handlung verfremden, ironisieren, relativieren, vergegenwärtigen sollen, man vergißt sie schnell. Das Stück (Regie: Thomas Langhoff) fesselt da, wo Strauß sich an die Vorlage hält bzw. sie nur strafft und variiert.

Die Vorlage aber hat es in sich. Feldherr Titus Andronicus (gespielt von Jürgen Holtz, einem breiten Fernsehpublikum bekannt als Ossi-Hasser "Motzki") kehrt siegreich nach Rom zurück, wo die beiden Prinzen Saturnius und Bassanius um die Kaiserwürde streiten. In Titus' Gefolge sind die gefangene Gotenkönigin Tamora und ihre drei Söhne. Der älteste wird, einem alten Gesetz gehorchend und allem Flehen der Mutter zum Trotz, von Titus geopfert. Alle erwarten, daß er selber nach der Kaiserwürde greift, doch er läßt, wieder aus Respekt vor dem Gesetz, dem älteren der Prinzen, dem schwachsinngen Saturnius, den Vortritt.

Er nimmt es auch klaglos hin, daß der neue Kaiser seine Tochter Lavinia, die er zunächst heiraten wollte, verstößt, weil Saturnius der schönen Gotenkönigin verfällt, die seinen Eheantrag sofort annimmt und Kaiserin wird. Sie gibt sich versöhnt mit Rom, doch in Wahrheit will sie sich rächen und das römische Herrscherhaus und die Familie des Titus ausrotten.

Angefeuert von ihr und ihrem, nun ja, Deckhengst Aaron, einem tückisch-intelligenten Mohr, vergewaltigen ihre zwei überlebenden Söhne Lavinia. Die Schändung geschieht für den Zuschauer halb im Verborgenen. Lavinia versucht mehrmals und jedesmal mehr mit Blut besudelt, aus dem Graben zu klettern, wird aber stets zurückgezerrt. Zum Schluß reißen Tamoras Söhne ihr die Zunge aus und hacken ihr die Hände ab, damit sie weder redend noch schreibend die Täter verraten kann.

Verstümmelt, geschändet, mit Stummheit geschlagen, muß Lavinia weiterleben, die Gesetzestreue des Vaters büßend. Titus wird über ihren Anblick fast wahnsinnig. Während er im Ohrensessel sitzt und in einer englischsprachigen Illustrierten blättert, kann er seinen Ekel ob des Gelalles der Tochter und ihrer notdürftigen Tischmanieren nur mühsam unterdrücken. Die Täter-Opfer-Positionen wechseln in rasender Abfolge.

Eine originelle Änderung, die Strauß an Shakespeare vorgenommen hat, sind die durch die Vergewaltigung geweckte Nymphomanie Lavinias und die Reue, die einen ihrer Schänder befällt. Um seine Schuld zu sühnen, stellt er sich Lavinia als Liebhaber zur Verfügung. Er müht sich redlich, aber der Akt gelingt nicht, der Ekel vor dem Anblick seines Opfers ist zu stark. Die Verbindung bleibt unfruchtbar, für beide enttäuschend, und schließlich tötet der Vater den Vergewaltiger der Tochter, um ihn der Mutter bei einem Versöhnungsmahl vorzusetzen Tamora kommentiert das schmackhafte Essen: "So, so. Die Mahlzeit war mein Sohn. Kann eine Mutter inniger sein mit ihrem Kind, als wenn es wieder einkehrt in ihren Leib?" Die Spirale der Perversionen dreht sich weiter ...

Warum wird so etwas gespielt im Berliner Ensemble, am letzten Januartag 2006? Eine innere Notwendigkeit muß es geben. Wie sonst hielte es einen während der dreieinhalb Stunden wie gebannt auf seinem Sitz?

Lavinia, bedrängt von Chiron und Demetrius: Täteropfer Foto: Hans Jörg Michel

Die nächsten Aufführungen im Berliner Ensemble, Theater am Schiffbauerdamm, Bertolt-Brecht-Str. 1, finden statt am 15. Februar und 3. März jeweils um 19.30 Uhr. Kartentelefon: 030 / 2 84 08-155.


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