© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/06 10. Februar 2006

Die Bewältigung des Alltags
Das Niedrigste neben dem Höchsten: Der Ruf nach Neuer Bürgerlichkeit ist keine Medienlaune
Doris Neujahr

Bürgerlichkeit und l'art pour l'art: wieviel umfaßt dieses Paradox? Einst, allerdings, war es keines", beginnt Georg Lukácz' berühmter Storm-Essay. Bürgerlichkeit bedeutet hier die selbstverständliche Verbindung von bürgerlichem Beruf und innerer Berufung. Die zum Gelderwerb notwendige Tätigkeit führt nicht zur Entfremdung und Selbstaufgabe, sondern sie bildet die Grundlage, auf der sich das Beste, was an innerem Reichtum, an geistigen, kulturellen, moralischen Empfindungen und Befähigungen in einem angelegt ist, entfalten kann.

Bürgerlichkeit bedeutet Disziplin, Maß und Mitte, bedeutet statt Exzentrik und Abkehr vom Alltag dessen Bewältigung und zugleich seine Kultivierung und Verfeinerung. Diese vollzieht sich in ritualisierten Förmlichkeiten (vulgo: guten Manieren), die den Genuß durch seine Beschränkung steigern oder die ein entspanntes Zusammenleben unverbundener Menschen ermöglichen.

Mit Bürgerlichkeit werden spontan auch Stilempfinden und ästhetische Ansprüche assoziiert. Als idealer Vertreter schwebt den meisten, die darüber reden, eine Mischung aus Groß- und Bildungsbürger vor, der am Tag brav sein Geld vermehrt, um am Abend seinen Leidenschaften zu frönen: als Mäzen, als Sammler von Büchern und Gemälden oder - wie Walter Rathenau - als Verfasser geistvoller Bücher.

Der Bürger hält die Spannungen der modernen Existenz im Gleichgewicht und wirkt damit vorbildlich für die enormen Fliehkräften ausgesetzte Gesellschaft. Damit ist er automatisch auch ein Politikum. Das Bekenntnis zur Bürgerlichkeit schließt die Einsicht in die Unterschiedlichkeit der Menschen und die Bejahung sozialer Schichtungen ein.

Bürgerlichkeit zu leben, war schon immer ein kaum zu bewältigender Balanceakt. Thomas Manns Lebensthema war das Auseinanderklaffen von Künstler- und Bürgerwelt und die Ablösung des kultivierten Patriziers durch den hemmungslos gewinnsüchtigen Bourgeois. Als Georg Lukácz um 1910 die Bürgerlichkeit beschwor, tat er das im Imperfekt: "Heute blickt man mit Sehnsucht auf diese Zeit zurück, mit der hysterischen, von vornherein zur Unerfüllbarkeit verurteilten Sehnsucht der komplizierten Menschen."

Die aktuelle Diskussion um eine "Neue Bürgerlichkeit" ist also alles andere als einzigartig. Immerhin dauert sie schon seit einigen Jahren an, was darauf hinweist, daß es sich um mehr handelt als um ein flüchtiges Medienereignis.

Niedergang und Expropriation des deutschen Bürgertums ereignete sich, so Nicolaus Sombart, in Form nationaler Katastrophen. Sombarts eigener, durch die Inflation ruinierter Vater verkaufte 30.000 Bände seiner Bibliothek an eine japanische Universität. Der immer noch beträchtliche Rest wurde im November 1943 durch eine Brandbombe vernichtet. Nicolaus Sombart und seine Schwester standen dabei, als das Haus im Berliner Grunewald wie eine Fackel herunterbrannte, und brachen in ein irres Lachen aus. Das Zittern um den ererbten Besitz hatte endlich ein Ende: "Wir sind den ganzen Plunder los!"

Wer die Katastrophen überleben wollte, durfte nicht sentimental sein. Das erklärt teilweise die Wurstigkeit, mit der die bürgerlichen Überbleibsel im Stadtbild beim Wiederaufbau abgeräumt, die bürgerlichen Institutionen umgestülpt und schließlich alles Bürgerliche pauschal zum Haßobjekt gemacht wurden. In Deutschland etablierte sich die vielzitierte "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" als tonangebend. Für sie war nicht der Besitz entscheidend, der private Autonomie ermöglicht, sondern die Erwerbsarbeit, um am Konsum teilhaben zu können.

Wichtiger als Bildung und Kultur waren die Trivialmythen der Werbung. In der "ethischen Auszeichnung des Wohlstands" (Arnold Gehlen) feierte die "Inferiorität der Massen" (Ortega y Gasset) ihren Triumph. Das ging so lange gut, wie das ökonomische Fundament trug und die Evidenz des Erfolgs alle Begründungen erübrigte. Vulgärer Höhepunkt der Entwicklung war die "Love Parade", deren größter Erfolg mit der Hausse der "New Economy" zusammenfiel. Mit deren Einbruch wurde die Frage nach der "Neue Bürgerlichkeit" plötzlich akut.

In diesem Zusammenhang muß auch eine Anmerkung zu den 68ern gemacht werden, die zur Abschaffung der Bürgerlichkeit etwas mehr beigetragen haben als unverbindliche ideologische Begleitmusik. Indem sie die sich vollziehende Entbürgerlichung zum moralisch wünschbaren Ereignis veredelten, übersteigerten sie die Entwicklung ins Bösartige und gesamtgesellschaftlich Destruktive.

In dieser aufgeheizten Stimmung war es unmöglich, eine realistische Gewinn-Verlust-Rechnung zu erstellen und rechtzeitig Gegen- und Kompensationsstrategien zu entwickeln. Bis heute lautet die offizielle bundesrepublikanische Heldenmär, daß dank einer tapferen Avantgarde aus Schriftstellern, Studentenführern und Therapeuten die "Gesellschaft" sich vom repressiven Obrigkeitsstaat emanzipiert und den Staat dadurch zugleich menschenfreundlicher gemacht habe.

Die aufgeklärte Gesellschaft aber ist in Wahrheit ein höchst irrationales und infantiles Gebilde. Die Schleifung der Institutionen hat statt in die Selbstregulation in eine gesellschaftliche Verschweinung geführt, die mittlerweile vom Staat Besitz ergriffen hat. Der öffentliche Raum versifft, ohne daß die Urheber zur Verantwortung gezogen werden. Das gängige Argument: Es handele sich um den Ausdruck politischer und sozialer Unzufriedenheit, der nicht kriminalisiert werden dürfe.

Das Niedrigste steht neben dem Höchsten, Goethe und die Geschwister Scholl neben Daniel Küblböck, unter dem Gejauchze des Publikums. Die Staatskassen sind zugunsten kurzfristiger Vorteile geplündert worden, 16jährige Schulabgänger können zwar kaum lesen und schreiben, dürfen aber an Kommunalwahlen teilnehmen, und ein abgewählter Kanzler läßt sich beim Großen Zapfenstreich von einer Frank-Sinatra-Schnulze zu Tränen rühren.

Jetzt sind die konsumfreudige Mittelstandsgesellschaft und die nimmermüden Staatsüberwinder schockartig damit konfrontiert, daß der Staat nicht länger als Adressat für Erfüllungswünsche und die Politik nicht als Technik zur Volksbeglückung dienen können. Die Beschwörung der "Neuen Bürgerlichkeit" zielt im Kern auf keine Rückkehr einer abgedankten Klasse oder auf die Überwindung eines lediglich ästhetisch definierten Phantomschmerzes, sondern auf die Neuetablierung von Normen, Maßstäben und Regeln, deren Gültigkeit über den Augenblick hinausgeht. Korrespondierend dazu zielt sie auf den Bedarf nach einer neuen Elite, die diese vertreten, nein: verkörpern kann. Das aber ist eine höchst politische Frage, die im politikentwöhnten Deutschland als solche überhaupt erst begriffen werden muß.

Das Bekenntnis zur Bürgerlichkeit schließt die Einsicht in die Unterschiedlichkeit der Menschen und die Bejahung sozialer Schichtungen ein.

Die Schleifung der Institutionen hat in eine gesellschaftliche Verschweinung geführt, die mittlerweile vom Staat Besitz ergriffen hat 

Konsumfreudige Mittelstandsangehörige am Imbiß: "Die aufgeklärte Gesellschaft ist ein höchst irrationales und infantiles Gebilde" Foto: PA/Picture-Press


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