© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Kritischer Diskurs folgt der polemischen Kampagne
Zwei aktuelle Publikationen verzichten in ihren Betrachtungen auf allzu schrille Anwürfe gegen den konservativen Historiker Hans Rothfels
Klaus Hornung

Hans Rothfels (1891-1976) steht wie ein erratischer Block, als ein wahrer Stein des Anstoßes in der Political-Correctness-Landschaft unserer Tage. Nachwuchshistoriker wie der Bremer "Sozialhistoriker" Karl-Heinz Roth oder der Hallenser Doktorand Ingo Haar hatten seit den neunziger Jahren versucht, auch den "nationalkonservativen" Historiker in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken. Nun hat der junge Freiburger Historiker Jan Eckel eine quellengesättigte und insgesamt ausgewogene "intellektuelle Biographie" von Rothfels vorgelegt, die sein wissenschaftliches Gesamtwerk im "Erfahrungshorizont und Gedankenhaushalt seiner Zeit" (Hans-Ulrich Wehler) darstellt, auch wenn der Autor gemäß den Bewertungsmaßstäben seiner Generation, der egalitären und pluralistischen Demokratie, manche Irritation und Distanz gegenüber Rothfels nicht verhehlt. Und das Münchener Institut für Zeitgeschichte hat 2004 eine wissenschaftliche Tagung zu dem kontrovers diskutierten Thema "Hans Rothfels und die Zeitgeschichte" veranstaltet, die nun publiziert vorliegt.

Rothfels wurde 1891 in ein assimiliertes jüdisches Elternhauses in Kassel hineingeboren. Er studierte seit 1909 Geschichte bei dem Altmeister Friedrich Meinecke. Als Kriegsfreiwilliger 1914 erlitt er bald nach Kriegsbeginn eine schwere Verletzung und den Verlust eines Beines. Nach 1918 zunächst im Reichsarchiv tätig, widmete er sich der Erforschung der Kriegsschuldfrage und der Vorgeschichte des Krieges, insbesondere der Reichsgründung und Reichssicherung Bismarcks, über dessen Staatsanschauung er schon 1925 einen vielbeachteten Essay vorlegte. Bismarcks Politik und Vermächtnis blieb eines seiner Lebensthemen.

1926 wurde Rothfels an die "Grenzlanduniversität" Königsberg berufen, wo er sich vor allem den Problemen des national gemischten Raumes Ostmitteleuropa "zwischen Reval und Bukarest" zuwandte. In dessen ethnischer Mischzone und "Gemengelage" erkannte er den Nationalstaat westeuropäischer Prägung, die Nation une et indivisible als ungeeignete politische Lösungsformel und trat für föderale und kulturautonome Ordnungsformen für die hier lebenden nationalen Minderheiten ein.

Als "politisch rechtsstehender" Historiker stand er zu Beginn der dreißiger Jahre volkskonservativen Auffassungen nahe. 1934 wurde er aus rassischen Gründen von den Nationalsozialisten aus dem Lehramt entlassen und nach vielen Demütigungen schließlich 1939 ins britische und dann amerikanische Exil gedrängt. 1951 kehrte er in sein Vaterland zurück, das er als seinen "natürlichen Standort" betrachtete und wo er noch einmal 25 Jahre in Tübingen mit weiter Ausstrahlung wirkte, insbesondere durch die renommierten Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, aber auch durch seine Mitwirkung an einer ersten Dokumentation der deutschen Vertreibungen.

Zu Recht wurde sein 1949 in deutscher Fassung erschienenes Buch "Die deutsche Opposition gegen Hitler" als Verteidigung des deutschen Volkes gegen die historischen Vereinfachungen und moralistischen Schuldsprüche der Sieger und mancher ihrer deutschen Adepten empfunden. Und auch Jan Eckel betont zutreffend den Ansatz dieses Buches, die deutsche Zeitgeschichte und die Ursachen des Nationalsozialismus der "germanozentrischen" Blickverengung entzogen und den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch universalhistorisch eingeordnet zu haben in eine gesamteuropäische Kultur- und Moralkrise und als Paradigma der Entartungsmöglichkeiten der modernen säkularisierten westlichen Massengesellschaften insgesamt.

Schon 1946 hatte er, der in den USA Zuflucht gefunden hatte, sich nicht gescheut, die alliierte Deutschland- und Vertreibungspolitik scharf zu kritisieren, als er den Londoner Economist zitierte: "Am Ende eines gewaltigen Krieges, der geführt wurde, um den Hitlerismus zu besiegen, schließen die Alliierten einen hitleristischen Frieden. Daran mißt sich in Wahrheit ihr Versagen." Mit seiner Geschichte des deutschen Widerstandes demonstrierte Rothfels seine Überzeugung, daß Geschichtsschreibung und Geschichtsreflexion nur dann ihrer moralischen Verantwortung gerecht wird, wenn sie unnachsichtig nach allen Seiten recherchiert und urteilt. Schon in den fünfziger Jahren hat Rothfels uns Jungen aus der Kriegsgeneration gezeigt - entgegen der Legende, die kritische Befassung mit der Zeitgeschichte habe erst mit der 68er Bewegung begonnen -, was wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte wirklich ist: nicht moralistisch-pharisäische Aburteilung der Vergangenheit und der Altvorderen allein im Licht "gegenwärtiger Wirklichkeitswahrnehmung", sondern gerade umgekehrt: Es gilt, auch die eigene Gegenwart in das kritische Licht der Erfahrungen der Vergangenheit zu stellen und eben daraus ein wirklich selbstkritisches anstatt überhebliches Gegenwartsbewußtsein zu gewinnen.

Rothfels sprach von einer doppelten "Assimilation": Gegenwart und Vergangenheit, Betrachter und Gegenstand haben sich wechselseitig zu beleuchten, zu korrigieren. Der vielzitierte "Bildungswert" der Geschichte besteht in allem anderen als in der Meinung, es in der je eigenen Gegenwart "so herrlich weit gebracht" zu haben. Die vielleicht wichtigste Frucht der Erfahrung des totalitären Zeitalters bestand für Rothfels in der gründlichen Kritik des modernen Fortschrittsglaubens, sei er sozialistischer oder liberaler Observanz.

Die Geschichte, so schrieb er etwa 1961 in der Einleitung zu dem von Waldemar Besson herausgegebenen Fischer-Lexikon Geschichte, sei eben alles andere als eine "Pappelallee" auf dem Weg zum Heil, schon gar nicht einem Heil in und von dieser Welt, wie es die totalitären Dogmen des Klassen- oder Rassenkampfes postuliert hatten.

Schon in der Rothfels-Kontroverse des Frankfurter Historikertages 1998 hatten Historiker wie Hans Ulrich Wehler und Hans Mommsen zur Ehre der Disziplin vor den unhistorischen ex-post-Urteilen der Jüngeren gewarnt und gefordert, auch Historiker wie Hans Rothfels im "Erfahrungshorizont ihrer Zeit" aufzusuchen und zu beurteilen. Gerade Rothfels' Verständnis des Staates nicht als "Exponent des Blutes und anderer Naturtatsachen", sondern als "geschichtlich ordnendes Prinzip" und Kulturleistung war von der rassistisch-biologistischen Ideologie der Nationalsozialisten sternenweit entfernt, was nur von Leuten verkannt werden kann, die mit moralistischem Furor die Vielfalt und Differenzierung der historischen, kulturellen und politischen Welt über den Leisten einer geistlosen "antifaschistischen" Weltbetrachtung schlagen und sie als den Höhe- und Schlußpunkt "kritischen Denkens" verstehen.

Die Kritik der Besonnenen an den einschlägigen Irrtümern mancher Nachwuchshistoriker wurde auch auf der Rothfels-Tagung des Instituts für Zeitgeschichte im Jahr 2004 erfreulich deutlich. Insbesondere Heinrich August Winkler charakterisierte Rothfels hier treffend als "konservativen Vernunftrepublikaner", der sich noch in der Endphase der Weimarer Republik eindeutig vom radikalen Nationalismus der Hugenberg-Deutschnationalen und auch der Hitler-Bewegung unterschied.

Die Kritik am 1930 gescheiterten parteienstaatlichen Parlamentarismus und das Plädoyer etwa für berufsständische Ordnungsformen waren in dieser Zeit weit verbreitet, nicht nur in Heinrich Brünings Zentrums-Partei, sondern auch bei anderen Vernunftrepublikanern wie Friedrich Meinecke, bei liberalen Demokraten wie Willy Hellpach (immerhin der Reichspräsidentschaftskandidat der DDP 1925) und bis hinein in die Krisendiskussion in der Sozialdemokratie, wo etwa Ernst Fraenkel vor "Verfassungsfetischismus" warnte. Die mutige Absage an die These von der deutschen Kollektivschuld in seiner Darstellung des deutschen Widerstands sogleich nach dem Zweiten Weltkrieg entsprang Rothfels' Bestreben, angesichts der nationalsozialistischen Greuel und Verbrechen das "andere Deutschland" nicht zu übersehen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Auch heute habe niemand das Recht, so Winkler, dies Rothfels vorzuwerfen - so wenig wie sein Selbstverständnis nicht als Jude, sondern als "Deutscher, Preuße und Protestant". (Er war 1911 in die protestantische Kirche eingetreten, und in seiner Historiographie sind Grundelemente von Luthers Zwei-Reiche-Theologie unverkennbar.) In den Angriffen auf Rothfels sieht Winkler bei manchen jungen Kritikern den Versuch der "Selbstlegitimierung der eigenen Generation" durch die "Delegitimierung früherer Generationen", die dann in ihren Kampagnen "und Schlimmerem" alle möglichen Unterstellungen und Motivverkehrungen nicht scheut.

Jan Eckel kritisiert zusammenfassend den "radikalen Konstruktivismus" der Rothfelsschen Historiographie, dem es weniger um die vergangene Wirklichkeit als um Sinnstiftung für die Gegenwart durch die Geschichtswissenschaft gegangen sei, um die Herstellung von Kohärenz inmitten der erlebten Katastrophen und Diskontinuitäten des zwanzigsten Jahrhunderts. Das zentrale Anliegen von Rothfels, so Eckel, sei die Deutungs- und Sinnstiftungsfunktion der Geschichte im Rahmen eines "affirmativen Verhältnisses" zur Nationalgeschichte und ein entsprechendes Bedürfnis nach einer "positiven Traditionsbildung" gewesen. Tatsächlich gehörte Rothfels zu einer Generation, die Wissenschaft und akademisches Lehramt noch ganz selbstverständlich in der Verantwortung für das Gemeinwesen und die "umfassende Schicksalsgemeinschaft" der eigenen Nation sah. Diese Position kann vor der "dezidiert nationalkritischen Ausrichtung" (Eckel) der Geschichtswissenschaft und Geschichtspädagogik der letzten Jahrzehnte natürlich nicht bestehen und wird von manchen ihrer radikalen Vertreter im Historiker-Nachwuchs gleichermaßen rüde wie geistlos abgeurteilt.

Heute wird freilich auch deutlich, wohin dieser extrem "nationalkritische" Impuls die Nation in der Mitte Europas inzwischen gebracht hat: in die kollektive psychische Depression eines Phönix in Asche, die sich inzwischen unübersehbar in unseren ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Zuständen spiegelt. Derlei Verhältnisse lehren uns, daß auch und gerade angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und "europäischer Integration" der "Standort" und der Zustand der eigenen Nation und ihrer politisch-gesellschaftlichen Ordnung der Stärkung und Pflege bedürfen, wenn die vielzitierte Weltoffenheit und Modernität nicht lediglich der Selbsttäuschung über den eigenen geschichtlichen Niedergang dienen soll.

Mit anderen Worten: Eine stärkere Prise nationalhistorischer und nationalpädagogischer Besinnung ohne nationalistischen Provinzialismus und mit einem selbstsicheren Blick auf die weltpolitischen Veränderungen und Herausforderungen ist genau das, was die heutige deutsche Lage auch von der Geschichtswissenschaft erwartet.

Die jüngsten Publikationen über Hans Rothfels mögen ein Zeichen dafür sein, daß die Phase der Kampagnen gegen ihn überwunden ist und wieder der wissenschaftlich allein vertretbaren kritischen Auseinandersetzung mit ihm Platz macht, für die sein Werk auch und gerade heute anregend genug bleibt.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Hohenheim. Er promovierte 1955 bei Hans Rothfels in Tübingen.

Foto: Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert. Reihe Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Band X. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 479 Seiten, gebunden, 42 Euro

Foto: Johannes Hürter, Hans Woller (Hrsg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 90. R. Oldenbourg Verlag, München 2005, 209 Seiten, broschiert, 24,80 Euro

Foto: Karl-Dietrich Erdmann (stehend) und Hans Rothfels (links) unterhalten sich auf dem Historikertag 1964 in Berlin: Selbstlegitimierung durch die Delegitimierung früherer Generationen


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