© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Kolumne
Faktor Arbeit
Klaus Motschmann

Zu den Merkwürdigkeiten der zunehmend ideologisch bestimmten politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gehört, daß naheliegende Überlegungen überhaupt nicht mehr in Betracht kommen. An grotesken Beispielen fehlt es nicht. Das jüngste liefert der "Familienkrach" der Großen Koalition um die "steuerliche Absetzbarkeit von Ausgaben für Kinderbetreuung".

Zunächst wird die Vermutung bestätigt, daß auch die neue Regierung offensichtlich alle Probleme auf finanzpolitischem Weg zu lösen versucht - trotz der astronomisch hohen Staatsverschuldung und trotz aller Erfahrungen, die Bismarck in der kurzen Sentenz zusammengefaßt hat: "Keine Regierung wird jemals genug Geld haben, um auf diese Weise Probleme zu lösen." Im Gegenteil! Diese Methode der Problembewältigung weckt immer neue Begehrlichkeiten. Man kann Karl Marx immer weniger widersprechen, der im Kommunistischen Manifest festgestellt hat, daß das Familienverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft "auf ein reines Geldverhältnis" reduziert wird. Von der Idee, die gegenwärtigen sozialen Probleme der Gesellschaft auf dem Weg über den wirtschaftlichen Faktor "Arbeit" zu lösen, hat man bislang kaum etwas vernommen. Dabei ist nicht an die fünf Millionen Arbeitslosen zu denken, sondern an die Ausweitung des bereits bestehenden Zivildienstes auf alle männlichen und weiblichen Jugendlichen - im übrigen eine längst fällige Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes.

Die arbeits- und sonstigen rechtlichen Einwände sind bekannt; selbstverständlich auch das dümmliche Argument: "Das hatten wir doch schon mal." Diese Einwände bestätigen die Defizite unserer Bildungspolitik, die sehr viel von sozialem Engagement spricht, aber nicht danach handelt. Bei dieser Argumentation wird bewußt übersehen, daß auch die Kinder, die Gebrechlichen, die Kranken, die Alten und die überlasteten Familien nicht nur einen rechtlichen, sondern vor allem einen moralischen Anspruch auf Unterstützung der sonst so gerne zitierten "Solidargemeinschaft" haben. Der Zivildienst müßte deshalb so organisiert werden, daß er nicht als "Arbeitsdienst" im ökonomischen Sinn mißverstanden wird, sondern als ein Beitrag zur Funktionsfähigkeit dieser Gemeinschaft.

Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung davon gesprochen, daß sie unserem Land dienen wolle. Sehr gut! Aber auch dienen will gelernt sein, damit das von der Kanzlerin gesetzte Zeichen verstanden und umgesetzt wird.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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