© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Mildernde Umstände für den Stellvertreter
Die Historiker Gerhard Besier und Francesca Piombo bewerten das Verhältnis Papst Pius XII. zum Nationalsozialismus neu
Alfred Schickel

Der Pacelli-Papst ist bekanntlich seit Hochhuths Theaterstück "Der Stellvertreter" ein historiographisches Dauerthema. Dabei wechseln sich fast chronisch einseitige Polemiken mit eifernden Plädoyers ab. Die hier vorzustellende Arbeit von Gerhard Besier und Francesca Piombo hebt sich wohltuend von dieser Literatur ab. Ihre etwa 300 Seiten umfassende Darstellung gefällt durch unaufgeregte Sachlichkeit und nüchterne Wissenschaftlichkeit mit über 800 Fußnoten und reichlich 300 Sekundärliteratur-Titeln statt illustrierenden Bildern, die konzentrierte Aufmerksamkeit verlangt, Flüchtigkeit bestraft.

Dieses deutet sich schon im richtigen Verständnis des Buchtitels durch die zutreffende Deutung des Umschlagbildes an. Da ist nämlich Eugenio Pacelli zu sehen, nicht als Papst Pius XII., sondern als Nuntius seines Vorgängers in Berlin. Und genau bis zum Ende des Pontifikats Pius XI. reicht die von Besier und Piombo abgehandelte Zeit der Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und "Hitler-Deutschland". Diese zeitliche Begrenzung ergab sich aus den Recherchiermöglichkeiten in den einschlägigen vatikanischen Archiven, die jeweils mit Beginn des Jahres 1939 endeten. Bis dahin war Pacelli bekanntlich (seit 1930) Kardinalstaatssekretär und damit nach dem Papst die entscheidende Figur im Verhältnis des Vatikans zum "Dritten Reich" Adolf Hitlers. Nicht von ungefähr trägt das heute noch gültige Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 seine Unterschrift.

Diese ist für die meisten Pacelli-Kritiker Kronzeugnis hitlerfreundlicher Einstellung und diplomatischer "Unbedenklichkeitsbescheinigung". So nicht für Gerhard Besier und Francesca Piobo. Für sie beginnt das Kapitel "Deutschland -Vatikan" nicht mit dem 30. Januar 1933, sondern schon mit dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Entsprechend setzt ihre Darstellung mit dem Abschnitt "Die Deutschland- und Europapolitik des Vatikans 1904-1920" ein. Darin handeln sie neben dem frühen beruflichen Lebenslauf Pacellis die päpstliche Friedensinitiative von 1917, die Ereignisse der Jahre 1918 bis 1923 in Deutschland und die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl ab. 60 Seiten Information, die man nicht missen möchte. Ebenso, wie den Inhalt des nachfolgenden Kapitels über die "Vatikanische Außenpolitik 1920-1929". Ihr Zeitraum deckt sich mit der Berliner Zeit Eugenio Pacellis als Nuntius beim Reich.

Die von Besier und Piombo beschriebenen Ereignisse trugen sich jedoch großenteils in Europa, genauer: in Polen und in Italien sowie in Rußland zu und münden schließlich in "Pacellis Urteil über die katholische Kirche in Deutschland am Ende seiner Nuntiatur"; ein 45 Seiten umfassendes Dossier, aus dem die Autoren aufschlußreiche Passagen zitieren.

Nach dieser ausführlichen, aber sachlich notwendigen Einführung in die Zeitumstände von 1933 führen die Autoren in einem dritten Abschnitt dem Leser die wichtigsten Stationen vatikanischer Deutschland- und Europa-Politik unter der Federführung Eugenio Pacellis vor. Mit Hilfe der bislang gewonnenen Einsichten in das Denken und Handeln Pacellis sowie der genaueren Kenntnis der politischen Lage Europas in den dreißiger Jahren gelingt ihnen ein abschließendes Resümee, das überzeugt. Sie erklären die mangelnde - und heute bemängelte - Distanz der römischen Kirche zu den zeitgenössischen Diktaturen mit deren damaligem Staatsverständnis. Nach diesem standen ständestaatlich organisierte und autoritär geführte Gemeinwesen den Vorstellungen der römischen Kurie seinerzeit näher als plebiszitär ausgerichtete Staatsgebilde.

Besier und Piombo sehen in dieser Nähe einen Ausdruck von "Faszination des Totalitären", wie sie ihre Arbeit auch im Untertitel nennen. Damit wollten sie freilich nicht sagen, daß für die katholische Kirche die jeweilige ideologische Ausrichtung von minderem Belang gewesen wäre. Schon gar nicht, wenn diese auf eine Leugnung Gottes hinauslief und Religion als "Opium für das Volk" hinstellte.

Da schien ein darwinistisch angehauchter Rassenkult weniger verwerflich, weil möglicherweise "bekehrbar". Kurienbischof Alois Hudal hegte eine solche Hoffnung. Der seit 1923 in Rom residierende Rektor der deutschen Nationalstiftung "Santa Maria dell' Anima" hielt den Nationalsozialismus offenbar für eine bloße deutsche Variante des italienischen Faschismus und somit für tolerabel, auch wenn er zeitweise seine kirchliche Indizierung betrieb. Kardinalstaatssekretär Pacelli war demgegenüber ungleich illusionsloser, wenn dies von außen auch nicht so deutlich erkennbar war und deswegen zu posthumen Verdächtigungen Nachgeborener führte. Gerhard Besiers und Francesca Piombos Fazit: "Hitlers Papst" war der nachmalige Pius XII. nicht. Eine klare Aussage, die den Vorzug hat, sorgfältig begründet zu sein und von ausgewiesenen Forschern zu stammen.

Gerhard Besier, Francesca Piombo: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, 415 Seiten, gebunden, 24,90 Euro


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