© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/06 20. Januar 2006

Vorgeschobener Posten
Fundstelle Festschrift: Ernst Jünger und die Justiz an der Jade
Wolfgang Müller

Wer vermutet in einer Festschrift unter dem Titel "Tota Frisia in Teilansichten", gewidmet Hajo van Lengen, dem Direktor der Ostfriesischen Landschaft in Aurich, eine ausführliche Studie über Ernst Jünger? Den Autor der "Marmorklippen", passionierten Leser und Antiquariatskunden, auf subtiler Jagd nach entlegenen Lektüren nie einem literarischen "Kanon" folgend, hätte es jedenfalls gefreut, sich an so versteckter Stelle entdecken zu können.

Der Festschrift-Beitrag von Martin Tielke ("Der Schmerz als Währung unserer Zeit. Ernst Jünger in Wilhelmshaven") nimmt seinen Ausgang mit einer heimatkundlich-akribischen Rekonstruktion der Umstände, die Jüngers Sohn "Ernstel" und Wolf Jobst Siedler 1944 in die Gefahr eines Todesurteils brachten. Wenn die beiden Marinehelfer ihre "defaitistischen" Äußerungen nur mit Gefängnisstrafe und Frontbewährung büßten, war das Jüngers glänzenden Verbindungen und, wie Tielke nachweist, der gewöhnlich nicht zimperlichen "Justiz an der Jade" unter dem "weißen", nicht-nationalsozialistischen Gerichtsherrn Admiral Ernst Scheurlen zu verdanken.

Daß Jüngers Sohn dann im November 1944 bei Carrara fiel, für den Führer, dessen Aufknüpfung er als Marinehelfer gefordert hatte, zählt für Tielke zu den Paradoxien des Weltbürgerkriegs, in dem der Vater einen "vorgeschobenen Posten" bezogen hatte. Jüngers "Grenzgängertum zwischen Leben und Tod", nach 1933 so gefährlich wie der Kampf in den "Stahlgewittern" des Ersten Weltkrieges, arbeitet Tielke facettereich heraus, gegen Kontrastfiguren wie Thomas Mann in seiner "Loge im sicheren Pacific Palisades", oder simplifizierende Interpreten wie Helmut Lethen, der, mit Blick auf sein Verhältnis zu den Exterminationen im Rücken der Ostfront, Jünger gern zum Prototyp der empfindungslos "kalten Persona" stilisiert.

Foto: "Ernstel" Jünger


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