© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/06 20. Januar 2006

Frisch gepresst

Mediävisten. In ihrer Habilitationsschrift versucht die Gießener Historikerin Anne Christine Nagel die "Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970" als "Im Schatten des Dritten Reichs" (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 336 Seiten, kartoniert, 52,90 Euro) stehend zu interpretieren. Dieser fast programmatisch klingende Buchtitel läßt die üblich gewordene Stereotypenhäufung über die ideologisch funktionalisierte Mediävistik befürchten, die zwischen 1933 und 1945 den NS-Germanismus samt Himmlers Heinrichs-Kult konfirmierte, um dann in der Adenauer-Republik die Nachfrage nach christlich-"abendländischer" Weltanschauung zu befriedigen. Diesem Muster bleibt Nagel tatsächlich über weite Strecken verhaftet, wenn sie den Karriereweg der Alt-Ordinarien und der "Kriegsjugendgeneration" zwischen Entnazifizierung und von Konkurrenzkämpfen begleiteter Re-Etablierung im westdeutschen Hochschulmilieu auf breiter Quellenbasis schildert. Ein neues wissenschaftshistorisches Deutungsmuster darf man in dieser Arbeit daher nicht suchen, aber ein solider Positivismus fügt das Material zur intellektuellen Gruppenbiographie zusammen, aus der Hermann Heimpel, Walter Schlesinger, Karl Bosl und Gerd Tellenbach herausragen, die auch einem breiteren Publikum "Lust aufs Mittelalter" gemacht haben.

Fremdkulturelle Verstörung. Iris Därmann habilitierte sich mit "Fremde Monde der Vernunft" (Die ethnologische Provokation der Philosophie. Wilhelm Fink Verlag, München 2005, 789 Seiten, kartoniert, 69 Euro) an der zur Universität aufgerückten einstigen Pädagogischen Hochschule in Lüneburg. Sie geht in ihrem voluminösen Werk der Frage nach, in welchem Umfang sich die europäischen Meisterdenker seit Wilhelm Dilthey bis hin zu Levinas und Derrida von der im 19. Jahrhundert umgreifenden ethnologischen Forschung beeinflussen ließen. Därmann ergreift dabei zeitgeistkonform Partei und rügt den abendländischen "Vernunftzentrismus" immer wieder schulmeisternd dafür, daß dieser auf die Herausforderung durch das "primitive Denken", durch den "Logos der Zigeuner, Indianer und Papua" nicht angemessen, nämlich relativierend und selbstkritisch reagierte. Dennoch gelingen ihr starke Kapitel, so über Marcel Mauss und Edmund Husserl, und selbst Martin Heideggers Werk vermag sie im Licht ihrer Fragestellung eine "Familienähnlichkeit mit Levy-Bruhl" abzugewinnen.


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