© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/06 20. Januar 2006

Prügeleien um den rechten Glauben
Ein Trierer Doktorand untersucht das Zusammenleben in gemischtkonfessionellen Dörfern im 19. Jahrhundert
Klaus Schlupp

Die mentalitätsgeschichtliche Untersuchung des Trierer Studienrates Tobias Dietrich verspricht Spannung. Wie lebten Angehörige verschiedener Konfessionen in einer Zeit des schroffen Konfessionalismus, der sich spätestens seit 1848 in Deutschland ausgebreitet hatte, im gemischtkonfessionellen Dorf zusammen?

Solche Dörfer waren trotz des im Westfälischen Frieden ausgesprochenen "Cuius regio, eius religio" in Deutschland aufgrund nachfolgender politischer Ereignisse nicht selten. So sind auch die jeweils drei Dörfer im Elsaß, der preußischen Rheinprovinz und dem schweizerischen Kanton Thurgau, die sich Tobias Dietrich als Untersuchungsobjekte ausgewählt hat, seit dem 17. Jahrhundert gemischtkonfessionell.

Dietrich zeichnet ein Kaleidoskop aller ländlichen Lebenszusammenhänge. Er befaßt sich mit den Pfarrern, dem Vereinsleben, den Kirchevorständen, der Kirchenfrömmigkeit im Dorf, dem dörflichen Dienstleistungsgewerbe wie etwa Hebammen und stellt es in den konfessionellen Kontext. Ein Kapitel setzt Konfessionsbewußtsein und Alter zueinander in Beziehung, wobei Dietrich interessante Zusammenhänge ausarbeitet.

Das Konfessionsbewußtsein war bei Alt und Jung unterschiedlich ausgeprägt. Bei Jüngeren war es in etwa mit der Anhängerschaft heutiger Jugendlicher zu einem Fußballverein zu vergleichen - die Konfession war willkommener Anlaß für eine Dorfschlägerei. Eine Gruppe sonderte sich gegen die andere ab, um letztlich Stärke und Zusammengehörigkeitsgefühl zu zeigen und jugendtypisch zu provozieren. Dieser Gegensatz war für alte Menschen nicht gegeben, da diese schon jahrzehntelang vom andersgläubigen Bäcker das Brot kauften, mit dem evangelischen Bauern die Ernten einbrachten oder mit dem Katholiken im Wirtshaus saßen. Man wußte sich im Dorf - unabhängig von der "großen Politik" - miteinander zu arrangieren.

Verdienstvoll ist, daß sich Dietrich den Landgemeinden zuwendet und damit ein neues Forschungsfeld für weitere mentalitätsgeschichtliche Studien eröffnet. Von der Stadt unterscheidet sich die Landgemeinde durch stärkere Abhängigkeiten der Bevölkerung voneinander. Dietrichs Kernthese ist, daß die Konfession im dörflichen Zusammenleben nur eine Nebenrolle spielte. Die Hauptrolle lag bei allgemeinen sozialen und ökonomischen Angelegenheiten. Eine Stärke der Arbeit ist, daß der Autor versucht hat, diese These durch seine gesamte Arbeit hinweg durchzuhalten.

Allerdings widerspricht er seinem Ansatz auch selbst. Zwar war beispielsweise bei der Auswahl einer geeigneten Hebamme die Konfession irrelevant, bei der Wahl eines Abgeordneten hingegen spielte es durchaus eine Rolle. Protestanten wählten nationalliberal, Katholiken Zentrum. Eine Ausnahme bildet hier das Elsaß, dessen Bevölkerung sich mit seinen Status als "Reichsland" nach 1870 unzufrieden zeigte oder diesen sogar als Besatzungsstatus empfand und in Reaktion darauf unabhängig von dessen Konfession nicht selten für einen pro-französischen Kandidaten stimmte.

Leider wird die Spannung, die das Thema erweckt, durch eine überdimensionierte Methodenreflexion am Anfang des Bandes abgekühlt. Der Leser muß sich erst durch vierzig vielleicht sogar verzichtbare Seiten durcharbeiten, bis er endlich zu Analysen kommt. Fünf Seiten zur Erläuterung des eigenen und zur Abgrenzung gegenüber anderen Ansätzen dürften mehr als genügen.

Zum immensen Zeitumfang - Dietrich behandelt das gesamt 19. Jahrhundert - kommt auch eine große geographische und politische Heterogenität hinzu. Immerhin handelt es sich um vier Staaten, zu denen diese Gemeinden im 19. Jahrhundert gehörten. Diesen Umstand erwähnt er zwar, bezieht ihn aber kaum in seine Analysen ein.

Weder zieht er einen klaren Vorher-Nachher-Vergleich, der sich für die Elsässer Gemeinden vor und nach 1870 geradezu aufgedrängt hätte, noch berücksichtigt er den religiös-politischen Wechsel von der katholischen Aufklärung hin zu einem konsequent ultramontanistischen Kurs nach 1848. Immerhin waren die Bistümer Straßburg unter Bischof Andreas Räß und Trier unter Wilhelm Arnoldi Hochburgen ultramontanen Denkens.

Die Chronologie beachtet Dietrich wenig. Auf die Schilderung des Hexenglaubens einer evangelischen Schülerin im Elsaß des Jahres 1912 folgt unmittelbar ein achtzig Jahre zurückliegender Konflikt einer Gruppe Schweizer evangelischer Mädchen, die die Simultankirche reinigen sollten, mit einem katholischen Barbier. Dem schließt sich ein Bericht über eine interkonfessionelle Prügelei Jugendlicher 1853 im Hunsrück an.

Bedingt durch den überdimensionierten historischen und geographischen Raum sind auch die Quellen überreichlich. Dietrich hat 36 Archive besucht und auch eine immense Zahl gedruckter Quellen ausgewertet. Eine wichtige Frucht dieser Arbeit sind die zahlreichen, thematisch unterschiedlichen Übersichtstabellen, die sicherlich eine Stärke des Werks ausmachen.

Allerdings wäre weniger mehr gewesen. Eine Reduktion des Untersuchungsgegenstandes auf eine Region hätte es ermöglicht, die Mängel der Arbeit zu vermeiden, und das Ganze stärker in den Zusammenhang mit der Makrogeschichte gebracht. 

Foto: Jakob Rauschenfels von Steinberg, "Erfurt, Dom und Severikirche mit Prozession" (um 1840): Bikonfessionalität nicht nur in der Stadt

Tobias Dietrich: Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag, Köln 2004, VII und 511 Seiten, gebunden, 54,90 Euro


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