© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Vom Mond gefallen
Eine problematische Ausstellung im Bonner "Haus der Geschichte" über Flucht, Vertreibung und Integration
Klaus Wippermann

Massenvertreibungen und Verschleppungen wurden im Januar 1942 von der sogenannten "Anti-Hitler-Koalition" offiziell als Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt; man forderte die "Bestrafung der Verantwortlichen für diese Verbrechen auf dem Wege rechtsstaatlicher Justiz". Am 17. Oktober 1942 billigte das polnische Exilkabinett in London ein Dekret, das die Todesstrafe für Deportationen und Vertreibungen vorsah.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 vereinbarten Churchill, Roosevelt und Stalin die Verschleppung von über einer Million Deutscher zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, und im August 1945 beschloß man im "Potsdamer Abkommen" die Vertreibung von Abermillionen Deutscher, die noch nicht geflohen waren, sowie die Annexion von mehr als einem Viertel des deutschen Reichsgebietes. Das Völkerrecht bezeichnet diese Maßnahme als Völkermord. Auf dem Nürnberger Tribunal wurden dementsprechend auch Todesurteile ausgesprochen - gegen Deutsche.

Die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte findet für solche ungeheuerlichen Widersprüche wenig Worte. Dort zeigt vielmehr ein bekanntes Foto "Die großen Drei" in Potsdam: Churchill und Truman lachend mit dem Diktator Stalin die Hände schüttelnd; in der Tat waren sie groß - in ihren bis heute tabuisierten oder geleugneten Kriegs- und Nachkriegsverbrechen.

Zuerst kamen die Täter, dann die Opfer

Zugegeben, die Ausstellung muß ein kaum auflösbares politisch-moralisches Problem bewältigen: Können Täter zugleich Opfer sein? Sind die Opfer überhaupt Täter gewesen? Und waren beiderseits die Täter früher nicht auch Opfer? Diese Fragen, auf die wohl nur kontroverse Antworten möglich sind, wird sich jeder ernsthafte Besucher stellen und je nach persönlicher Betroffenheit oder politischer Position unterschiedlich reagieren. Was leistet nun die Ausstellung für den Gewinn differenzierter historischer Erkenntnis? Sie offeriert im ersten Teil leider überwiegend eindimensional und unhistorisch die "Reemtsma-Manier": Zuerst kamen die Täter, dann die Opfer. Oder wie der Titel des dort präsentierten Buches von Micha Brumlik lautet: "Wer Sturm sät ..." Dementsprechend sieht der Besucher am Eingang der Ausstellung zunächst Filmaufnahmen von polnischen Flüchtlingstrecks 1939 - und dazwischen Sequenzen, die deutsche Kampfflugzeuge beim Bombenabwurf zeigen. Solch willkürliche Montagetechnik kommt einem bekannt vor. Es folgt ein schwarzer Foto-Tunnel über die Wehrmacht, die auch hier pauschal mit Kriegsverbrechen identifiziert wird. Danach werden Filmaufnahmen von Flucht und Vertreibung gezeigt sowie eine Darstellung mit dem bemerkenswerten Titel: "Mythos Gustloff" - Zehntausend allein hier auf ihrer Flucht Getötete, vor allem Frauen und Kinder, also ein "Mythos" - und dazu ein Foto des erst kürzlich errichteten russischen Denkmals für den verantwortlichen U-Boot -Kommandanten als sowjetischen Helden.

Über die europäischen Konflikte vor 1939 erfährt der Besucher wenig: Der türkische Völkermord an den Armeniern 1915 wird erwähnt sowie der griechisch-türkische "Bevölkerungstransfer" 1922/23. Aber was "Versailles" seit 1919 für die Deutschen bedeutete, wird in seiner Dramatik und seinen verhängnisvollen Konsequenzen für alles Folgende auch nicht annähernd angemessen dargestellt. Hier kapituliert man erwartungsgemäß vor der politischen Korrektheit.

Die Kriegsallianz von 1914 gegen Deutschland setzte sich schließlich in "Versailles" fort : Hier handelte es sich keineswegs um einen "Friedensvertrag", wie heute noch so umerzieherisch wie falsch in unseren Schulbüchern kolportiert wird, sondern um eine neuerliche faktische Kriegserklärung an Deutschland vor allem durch Frankreich, dem sich Polen und die Tschechoslowakei mit eigenen feindlich-aggressiven Maßnahmen anschlossen. Daß aus den von Polen widerrechtlich annektierten Gebieten schon in den zwanziger Jahren fast eine Million Deutsche flüchteten oder vertrieben wurden, ist heute ebenso wenig bekannt wie die Tatsache, daß damals Polen als militantester Staat in Europa galt, der mit seinen sämtlichen Nachbarn den gewaltsamen Konflikt zwecks weiteren Landraubs suchte. Die junge Sowjetunion war übrigens das erste Opfer eines polnischen Angriffskrieges. Polen mußte dann die 1921 im Frieden von Riga okkupierten Gebiete, die bis auf die Städte Wilna und Lemberg nur eine kleine polnische Minderheit besiedelte, wieder an die Sowjetunion abtreten und wurde dafür mit den deutschen Ostgebieten "entschädigt", deren Annexion es schon sehr viel früher beabsichtigte.

Nicht von ungefähr bezeichneten daher britische Politiker und Wissenschaftler die Jahre 1914 bis 1945 mit ihren Folgen als einen "zweiten Dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland". Diese äußerst konfliktreichen europäischen Zusammenhänge von Ursachen und Folgen, die neben den fraglosen deutschen Verbrechen und Völkermorden wirksam waren, werden in der Ausstellung verschwiegen - obgleich ihre Kenntnis Voraussetzung ist für eine objektive Beurteilung des Ausstellungsthemas.

Da nimmt es auch nicht wunder, daß kaum Erwähnung findet, was denn die insgesamt 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene verlassen mußten: welche Dörfer und Städte, welche Provinzen samt ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Wirtschaft. Offenbar scheinen sie alle vom Mond gefallen zu sein.

Ein Ende diese Verständnislosigkeit wie Ahnungslosigkeit - in einer Gesellschaft, die sich selber eine weltweit einmalige und professionelle "Erinnerungskultur" attestiert - setzt in der Ausstellung erst dann wieder ein, wenn es um die in der Tat erfolgreiche Integration geht. Hier wird mit vielen Details der zunächst sehr schwierige, dann zunehmend gelungene Weg der Eingliederung dargestellt. Zusammen mit den späteren DDR-Flüchtlingen sowie den Aussiedlern hat das kriegszerstörte Westdeutschland nach 1945 insgesamt mehr als zwanzig Millionen Menschen aufgenommen - eine Friedensleistung unvergleichlicher Art. Dafür wären nicht zuletzt die Vertriebenen-Verbände und ihre Publikationen zu würdigen. Dies geschieht zwar, aber stets im Kontext linker Kritik an ihnen. Eine "linke Kritik" übrigens, die nicht müde wurde und wird, weltweit die Rechte alle bedrängten Volksgruppen einzufordern - mit Ausnahme Deutschlands. Auch diese moralische Verwirrung könnte man als einen deutschen Sonderweg bezeichnen.

Der Katalog zur Ausstellung enthält zahlreiche Beiträge von unterschiedlicher Qualität zu einzelnen thematischen Aspekten - er hütet sich aber ebenfalls davor, die genannten zeitgeschichtlichen Tabus zu erwähnen. Diese Vorsicht reicht bis zu der Auswahlbibliographie, wo entsprechende kritische Buchtitel fehlen (beispielsweise Herbert Ammon: "Die Vertreibung der Deutschen. Defizit der deutschen Zeitgeschichtsschreibung" oder Heinz Nawratil: "Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit"). Dafür wird einem polnischen Historiker Gelegenheit gegeben, einen Artikel mit dem aufschlußreichen Titel zu veröffentlichen: "Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Polen". Also sind Millionen von Deutschen weder aus ihrer Heimat vertrieben worden, noch wurde ihnen ihr eigenes Land fortgenommen. Leider versteht sich dieser Beitrag nicht als Realsatire. Auch wurde die deutsche Bevölkerung, so der Wortlaut des Textes, nicht etwa vertrieben, sondern (wie in der DDR-Sprachregelung) nur aus- oder umgesiedelt beziehungsweise "evakuiert". Immerhin wird in letzter Konsequenz auf die Behauptung verzichtet, daß die Ostdeutschen 1945 "befreit" worden seien.

Stiftung Haus der Geschichte (Hrsg.): Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Kerber Verlag, Bielefeld 2005, gebunden, Abbildungen, 26,90 Euro Die Ausstellung ist bis zum 17. April 2006 in Bonn zu sehen. Anschließend wird sie in Berlin und Leipzig gezeigt.

Notkirche in Aurich aus Wellblech: Gelungene Eingliederung foto: aus dem Ausstellungskatalog

Begleitbuch zur Ausstellung foto: Ausstellungskatalog

Deutschlandtreffen 1971 der schlesischen Landsmannschaft: Weltweit Rechte bedrängter Völker einfordern - mit Ausnahme Deutschlands foto: aus dem Ausstllungskatalog


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