© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Keine Schuld, keine Sühne
Volksbühne Berlin: Frank Castorf adaptiert Dostojewskijs "Verbrechen und Strafe"
Jens Knorr

Als Frank Castorf seine in Koproduktion mit den Wiener Festwochen erarbeitete Inszenierung von "Verbrechen und Strafe" Anfang Oktober vergangenen Jahres überarbeitet zur Berliner Premiere brachte, konnte er nicht wissen, daß Begriffe wie "Sozialschmarotzer" und "Parasiten", Münteferings "Heuschrecken" nicht zu vergessen, wieder ganz selbstverständlich zum Wortschatz der politischen Klasse gehören würden. Doch ahnen konnte es jeder, der wachen Verstandes durch eine sich immer weiter von jeder realen Akkumulation abkoppelnde Gesellschaft geht, deren Institutionen nunmehr auf ihre Kernaufgaben reduziert werden, nämlich die Unbrauchbaren ins soziale Nichts zu entlassen und unter Zwangsverwaltung zu stellen.

Der Verlumpung oben antwortet die Verlumpung unten, der äußeren die innere. Was einem Wolfgang Clement recht ist, das kann einem Rodion Romanowitsch Raskolnikow nur billig sein. Lediglich die Selektionskriterien sind leicht verschoben. Der ewige Student holt sich das Geld für Miete und Studium dort, wo er es greifen kann, bei der raffenden Kapitalistin Aljona Iwanowna, "die nicht besser als eine Laus ist", und besorgt ihr das sozialverträgliche Ableben gleich mit.

In der Schilderung des Tatmilieus ist Regisseur Castorfs Unterschichtentheater nicht eben zimperlich. Einige schwer auszuhaltende Szenen dürften den Wunschbildern einer parasitären politischen Klasse von der Wirklichkeit in diesem, ihrem Lande selbstverständlich nicht entsprechen. So eklig es ist, Kakerlaken und Ratten, Kotze und Scheiße per Nahaufnahme serviert zu bekommen, so notwendig ist es doch, damit sich der Zuschauer seiner Komplizenschaft mit Raskolnikows Tat überführen kann. Die Entscheidung, ob er die verwandten Theatermittel für echt nimmt, sich ekelt und wovor, liegt allein bei ihm. Die Volksbühnenwirklichkeit will sich über die Wirklichkeit in diesem, unserem Lande gar nicht erheben, die Lektüre Dostojewskis - aber bitte in der Neuübersetzung von Swetlana Geier! - nicht ersetzen.

Das ist der Abend von Martin Wuttke und Thomas Thieme, zweier Schauspieler, die sich in der Konfrontation von Mörder und Staatsanwalt, Raskolnikow und Porfirij Petrowitsch, auf Augenhöhe begegnen. Und den Abend retten! Denn fünf von fünfeinhalb Stunden ist Wuttke dabei zu besichtigen, wie er Bert Neumanns Bühnenaufbau, die gewohnt verwohnte Wohn-, Arbeits-, Container-Landschaft, durchrast, überturnt, ignoriert - auf der Suche nach einer Figur, nach einem Vorgang, nach adäquaten Partnern.

Wer ansonsten auf der Bühne steht und geht, schweigt und redet, rast und turnt oder eben nicht, der scheint das im Bewußtsein zu tun, allein die Zugehörigkeit zu Castorfs Räuberbande wäre bereits Ausweis einer Spielweise und allein die Kostümierung mit Burka oder NazBol-Armbinde würde Dostojewskijs Figuren schon irgendwie zu heutigen machen. Kein Ensemble, nirgends, oft nicht einmal ein Anti-Ensemble! Wer's immer schon so gemocht hat, der wird wohl ein Auge zudrücken und es weiterhin mögen, wer genauer hinsieht, wird's nicht mehr ganz so mögen können, wie er es früher mochte.

Aber nicht an der Selbstgenügsamkeit einiger nachrangiger Schauspieler scheitert der Abend, sondern an einem von allen guten Dramaturgen verlassenen Regisseur. Gewiß soll der Bühnenaufbau ohne Einblick, den uns Videokamera und -schnitt gewähren, gar keinen Ausblick geben. Und gewiß soll Raskolnikow als einer unter vielen erscheinen, seine Überhebung als rein zufällig und auch, daß er zum Mörder und nicht etwa zum Ermordeten wird um das, was er zu essen den anderen voraus hat. Das innerste Selbst des Normalbürgers kommt als die vollkommene Leere des sich selbst verwertenden "automatischen Subjekts" zur Darstellung, indem der Zusammenhang zwischen Darsteller und Rolle, Darstellung und Dargestelltem noch im Prozeß der Herstellung zerstört wird. Wo keine Subjektivität mehr ist, da gibt es keine Überschreitung, und wo keine Überschreitung mehr ist, da gibt es auch keine Zurechtweisung. Ein anderes als ein rein privates Interesse an der Aufklärung des Verbrechens kann Thieme seinem Untersuchungsrichter ebensowenig glaubhaft unterstellen wie Wuttke seinem Raskolnikow Schuldgefühle und Reflexionen nach der Tat.

Das Nachher ist vom Vorher so ununterscheidbar geworden wie das Tötungsverbot vom Tötungsgebot, der Mörder vom Nichtmörder, das Opfer vom Nichtopfer - und Rollen gibt es schon lange nicht mehr zu besetzen.

Die privaten Räume sind öffentliche, aber die Bühne als öffentlicher Raum ist verwaist. Sie wird nur durchquert, um von einem Zimmer oder von einem Stockwerk in das andere zu gelangen. Die moralische Veranstaltung ist abgesagt, die theatralische dient als Platzhalter, falls es wider Erwarten doch mal was neu zu verhandeln geben sollte. So lange läßt der Regisseur die Dinge laufen, wie sie eben laufen, und scheint zu müde, sie noch unterlaufen zu wollen. Er hat seine Schauspieler in eine Freiheit entlassen, von der nur zwei von ihnen, Thieme und Wuttke, wirklich Gebrauch machen, die beiden aber wie keine anderen im Land.

Castorf muß "Die Brüder Karamasow" machen! Castorf muß seine vier, dann fünf Dostojewski-Adaptionen geschlossen zeigen, hintereinander weg, in permanentem theatralen Ausnahmezustand. Und dann muß, ja, muß sich die Volksbühne wieder einmal neu erfinden: mit Castorf oder ohne ihn. Und sollte es der eine oder andere Politiker nicht aushalten: Wir werden's aushalten, weil wir müssen.

Die nächsten Aufführungen in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstr. 227, finden statt am 21. Januar und 10. Februar jeweils um 19 Uhr. Info: 030 / 2 40 65-5

Hinter Gittern: Verlumpung oben und unten, außen und innen Foto: Volksbühne Berlin


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