© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Der Wille zum Stil
Kultureller Konservatismus: Wolf Jobst Siedler kann am 17. Januar seinen achtzigsten Geburtstag feiern
Thorsten Hinz

Sein Verhältnis zur Gegenwart beschreibt Wolf Jobst Siedler neuerdings anhand eines Ausspruchs des Landjunkers Bismarck, der den Anblick von Ozeanschiffen mit den Worten kommentierte, diese Welt sei nicht mehr die seine. So muß man wohl reden und fühlen, wenn der Vater ein ehemaliger kaiserlicher Diplomat war, wenn ein Onkel 1930 den Erweiterungsbau der Berliner Reichskanzlei errichtet hat und sich unter seinen Vorfahren Zelter und Schadow befinden; wenn man im Berliner Nobelviertel Dahlem sein Elternhaus bewohnt, auf dessen Terrasse die Großen des Landes und der Welt, von Brandt bis Schmidt, von Kissinger bis Gorbatschow über die globale Zukunft diskutiert haben.

Siedlers Biographie weist eine heute unübliche lebensgeschichtliche Kontinuität auf, die sich durch alle Wendungen und Brüche hindurch behauptet hat. 1926 in Berlin geboren, mit 17 Jahren als Luftwaffenhelfer zum Kriegsdienst eingezogen, war der schlimmste Einschnitt 1944 die Verhaftung des knapp 18jährigen. Mit seinem Freund, einem Sohn Ernst Jüngers, hatte er sich über den verlorenen Krieg geäußert und über Hitler, der aufgehängt gehöre. Dafür standen sie wegen Wehrkraftzersetzung vor Gericht. Jünger sen. konnte das Todesurteil, nicht aber die Verurteilung zur Frontbewährung abwenden.

Der Jünger-Sohn fiel, Siedler überlebte und kehrte nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück, studierte an der Humboldt-Universität und der Freien Universität (ohne Abschluß) und engagierte sich im Berliner Büro des Kongresses für kulturelle Freiheit, dessen Generalsekretär er von 1953 an für drei Jahre war. Seit 1954 als Redakteur bei der Neuen Zeitung, einem deutschsprachigen Blatt der Amerikaner, machte er schließlich eine atemberaubende Karriere als Journalist, Verleger, Publizist, Schriftsteller.

Wehmut um das arkadische Preußen, nicht den Machtstaat

Wenn er seinen beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg weniger sich selbst als vielmehr der Tatsache zugeschreibt, daß er zu den wenigen Übriggebliebenen seiner Generation zählt, überwiegt also die tragische Erfahrung die Koketterie. Banalitäten, auch gut gemeinte, verfallen seinem Verdikt. Das mußte selbst Marlene Dietrich erfahren, deren Schlager "Sag mir, wo die Blumen sind" er seinerzeit im Berliner Tagesspiegel als raffinierte Barmusik dekonstruierte. Was die Diva wiederum als raffinierte Fortsetzung von Schmähungen aus Deutschland mißverstand, die sich an ihrem Fronteinsatz für die Alliierten entzündeten. Siedler legt Wert darauf, meistens quer zu den politischen Fronten gelegen zu haben.

Er ist ein weitherziger Konservativer, dessen Konservatismus kulturell definiert ist. Er drückt sich unter anderem aus im Willen zum Stil, und zwar verstanden als Ausdruck von Selbstdisziplin, geistiger Hygiene und humaner Gesinnung. Er ist ein letzter genuiner Repräsentant jener Bürgerlichkeit, von der heute wieder soviel die Rede ist. Sein vor über 40 Jahren erschienenes Buch "Die gemordete Stadt" (1964) war eine frühe Attacke gegen die Abriß- und Modernisierungswut in Deutschland, die es heute fast unmöglich macht, im Stadtraum die Zeit zu lesen, und damit zur Zerstörung von Kultur- und Geschichtsbewußtsein beigetragen hat.

Siedlers Tätigkeit als Verleger, für die er das Angebot Richard von Weizsäckers ausschlug, das Bildungsressort im Berliner Senat zu übernehmen, ist ein eigenes Feld. Stellvertretend genannt seien die beiden wichtigsten Projekte des Siedler-Verlags, die zwölfbändige "Deutsche Geschichte" und die zehnbändige "Deutsche Geschichte im Osten Europas".

Er hat selber zahlreiche Bücher geschrieben, zumeist bittersüße über Berlin und Preußen. Nicht über den Machtstaat, sondern über das arkadische Preußen. Man könnte sie Utopien der Vergangenheit nennen, an denen er die Gegenwart mißt. Seine Prosa fließt melodisch, sanft rhytmisiert dahin. Sie erinnert an die Romane Fontanes, vor allem an den "Stechlin", sowie an Franz Hessels "Flaneur" von 1929, dem alles "Gegebene schon Erinnerung" ist. Nur daß Siedler die Gegebenheiten Hessels als Gewesenes oder Zerstörtes verbuchen mußte. 1998 schied er im Zorn aus seinem Verlag aus, der längst zu 75 Prozent Bertelsmann gehörte, just nachdem das bösartig-brutale Goldhagen-Buch ins Verlagsprogramm gedrückt worden war. Siedlers seriöser Ruf war dazu mißbraucht worden, um einen zweifelhaften geschichtspolitischen und Markterfolg zu lancieren. Der Schutzzaun, den er um den Zaubergarten seines Verlags errichtet zu haben glaubte, erwies sich als Illusion.

Die schmerzhafte Desillusionierung war wohl der Preis dafür, daß ökonomische, gesellschaftspolitische und soziale Fragen ihn immer weniger interessierten. Natürlich ist er ein Entschluß- und Tatmensch, anders wäre seine Karriere gar nicht möglich gewesen, aber im Kern ist er ein Melancholiker, der seine Aufgabe darin sieht, an vergangenes Glück mahnend zu erinnern. Seine Aufsätze über Preußen, den deutschen Osten und Berlin enden gewöhnlich mit einem entschlossenen "Aus, vorbei!", doch stellt diese Jüngersche Härte sich lediglich als eine Attitüde heraus, mit der er der Verzweiflung über den aktuellen Unverstand zu entgehen versucht.

Denn schon der nächste Aufsatz beginnt im gleichen Tonfall wie der vorangegangene. Gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz hat er gehofft, in das wiedervereinigte Berlin würde etwas zurückkehren vom Glanz der Reichshauptstadt. Inzwischen sind die Hoffnungen der Enttäuschung gewichen. Joachim Fest, ein langjähriger Freund, hat über den Widerwillen berichtet, den ihm Deutschland als Standort der Frührentner, Dauerstudenten und Leistungsbedrückten bereitet: "Das Land war sich eine Langweiligkeit geworden. Und der Welt auch."

Die Jüngersche Härte erweist sich als Attitüde

Über die Gründe hat Siedler nie reflektiert. Dabei lassen sie sich aus dem Widerspruch entwickeln, der seine eigene Karriere prägte. Es ist der Widerspruch, der zwischen dem deutschen Kulturbürger und dem politisch-zivilisatorischen Atlantiker klafft. Signifikant wird er beispielsweise in den Passagen des im Jahr 2004 erschienenen zweiten Teils seiner Autobiographie unter dem Titel "Wir waren noch einmal davongekommen" (JF 42/04), wo er sich abfällig über die "umerzogene" deutsche Nachkriegsliteratur äußert und andererseits begeistert an die Tätigkeit als Generalsekretär des deutschen Büros des Kongresses für die Freiheit der Kultur in den fünfziger Jahren erinnert. Die CIA-finanzierte Veranstaltung machte mobil gegen die kommunistische Herausforderung und bereitete gleichzeitig der "systematischen Beeinflussung herrschender Wertvorstellungen und Methoden der pädagogischen Praxis" in Deutschland (so ein für "re-orientation" zuständiger Mitarbeiter im US-Außenministerium) den Boden.

Siedler war selber Akteur in einem Prozeß, den Habermas die "vorbehaltlose Öffnung" gegenüber der Kultur des Westens nannte. Seinen Kollateralschaden hat Hans Jürgen Syberberg in die Worte gefaßt: "In der freiwilligen Selbstaufgabe seiner schöpferischen Irrationalität vor allem, und vielleicht einzig hier, hat Deutschland wirklich den Krieg verloren." Aus dieser Aporie stammt der Schmerz, der Siedlers Texte durchzieht. Am 17. Januar wird er 80 Jahre alt.

Wolf Jobst Siedler: Wider den Strich gedacht. Siedler Verlag, München 2006, gebunden, 256 Seiten, 19,95 Euro


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