© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/06 06. Januar 2006

Unüberwindliche Gedächtnisgräben
Holocaust gegen Gulag: Laut dem Berliner Soziologen Stefan Troebst bleibt Europa erinnerungspolitisch geteilt
Oliver Busch

Den Eisernen Vorhang gibt es noch. Nur heute trennt er nicht mehr Gesellschaftssysteme, sondern Erinnerungszonen. Im "alten Westen" ist, wie Stefan Troebst glaubt (Berliner Journal für Soziologie, 3/2005), ein unter dem Etikett "Holocaust" firmierendes historisches Geschehen "zunehmend zum Gründungsmythos" Europas geworden. Nach den jüngsten Äußerungen des iranischen Präsidenten dürfte den Alt-Europäern aber deutlich geworden sein, von welch begrenzter Reichweite und Integrationskraft dieser Mythos ist. In Südamerika, in Afrika und Asien ist die oft reklamierte Universalität des "Zivilisationsbruchs" geschichtspolitisch sogar völlig irrelevant.

Troebsts Blicke schweifen indes nicht nach Fernost, um den vornehmlich deutschen, US-amerikanischen und israelischen "Erinnerungsimperativ" außer Kraft gesetzt zu sehen. Für ihn beginnt die "erinnerungskulturelle Trennlinie" irgendwo zwischen Oder und Weichsel, im Europa der neuen EU-Mitglieder. Hier wirkt die vierzigjährige sowjetische Hegemonie, verkörpert im Gulag-System, bis heute nach. Die Erinnerung an die Gulag verdrängt den Holocaust. Das ist nicht die einzige Kollision, mit der das Brüsseler Gedächtnismanagement in Osteuropa zu rechnen hat. In Putins Rußland tritt das Schicksal der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg hinter das Gedenken an den Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" zurück. "Stalingrad" und der "9. Mai" rangieren hier deutlich vor dem "Holocaust", aber auch vor "Jalta", der Konferenz, die für die baltischen und mittelosteuropäischen Staaten partout nicht mit der nachsowjetischen Deutung von der "Befreiung Europas" zusammenklingt. Dabei ergeben sich kuriose Gedächtnisallianzen: Die US-Amerikaner unterstützen die Osteuropäer in ihrer Interpretation, Jalta symbolisiere den "Verrat des Westens". Die Deutschen, zumindest zu Kanzler Schröders Zeiten, nehmen Partei für die Jalta aussparende russische Reduktion auf "Befreiung" und "Sieg über den Faschismus". Noch unübersichtlicher wird die Erinnerungslandschaft, wenn man nach dem "Bewältigungsmodus" sortiert. Hierbei zerfällt dann auch die erinnerungspolitische Einheit des alten Westens. Die "DIN-Norm" der für exportfähig erachteten deutschen "Geschichtsversessenheit", die totalisierende Züge trägt und für die jede "Schlußstrichmentalität" verpönt ist, scheint anderen keineswegs nachahmenswert.

Erinnerungskultur bleibt nationalstaatlich ausgerichtet

In Spanien gab es bis 2000 einen "postdiktatorischen Schweigekonsens" über die Franco-Ära. Polen setzte bis zur Skandalisierung von Jedwabne auf das "Verheilenlassen alter Wunden", ein Rezept, das nur den Juden gegenüber überdacht wurde - das aber, was Troebst zu erwähnen vergißt, den deutschen Vertriebenen gegenüber offiziell noch befolgt wird.

Polens Umgang mit dem Kommunismus läßt wiederum weitere Trennlinien zwischen den osteuropäischen Staaten erkennen. Denn nur im Baltikum und in Kroatien bestehe ein Grundkonsens über die "kategorische Ablehnung" eines auch ethnisch fremden kommunistischen Regimes. In Polen, der Tschechei und Ungarn werden statt dessen heftige Kontroversen über die diktatorische Vergangenheit ausgetragen. Da sich in Bulgarien und Rumänien alte und neue Machteliten die Waage halten, sei hier neben ambivalenten Wertungen auch Apathie zu registrieren. Schließlich die Rußländische Föderation und andere GUS-Staaten: Dort gebe es aufgrund der Kontinuität autoritärer Strukturen keine "trennscharfe Distanzierung von der kommunistischen Herrschaftspraxis".

Diese Erinnerungszonen gelten aber nur in bezug auf den Kommunismus. Sie lassen sich auf den Umgang mit der "industriellen Vernichtung der europäischen Juden" nicht übertragen. Hier spricht Troebst von einem "Patchwork", bestenfalls lasse diese Erinnerungstopographie eine "Vierteilung" Europas erkennen. Gegenpole zu Deutschland bilden dabei Ungarn, Lettland und Bulgarien. Für diese Länder stelle der Holocaust - trotz eigener Befangenheiten - überhaupt kein "zivilisatorisches Trauma" dar. Andererseits sind in Riga und Budapest, aber auch in Moskau und Bukarest nach 1989 "neue Holocaust-Denkmale" entstanden.

Im vielfach erinnerungspolitisch geteilten Europa scheint für Troebst nur in einer Hinsicht Einheit garantiert: Der primäre Bezugsrahmen für Erinnerungskultur bleibe der nationalstaatliche. Wegen der vielen "Gedächtnisgräben" zwischen den Europäern bleibe jede Nation bei der "Bewältigung" ihrer Vergangenheit letztlich auf sich selbst zurückgeworfen.


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