© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/05 01/06 23./30. Dezember 2005

Mut zur Sonntagsrede
Das Gewissen regt sich nachts: Platzeck auf Thierses Spuren
Thorsten Hinz

Der neue SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck wandelt auf den Spuren Wolfgang Thierses. Thierse verdiente sich seine Parteikarriere damit, daß er den hohlen westdeutschen "Geschichtsdiskurs" mit dem Pathos des DDR-Regimegegners - von dem allerdings niemand etwas wußte - beglaubigte. Platzeck hat jetzt auf einer Gedenkfeier im KZ Sachsenhausen anläßlich des am 16. Dezember 1942 ergangenen Deportationserlasses für Sinti und Roma, gesagt: "Nichts war heimlich, Millionen Deutsche waren Zeugen." Und hätten weggeschaut!

Das sind so leicht dahingesagte Worte. Doch woher weiß Platzeck von der millionenfachen Zeugenschaft? Und, falls sie zutrifft, was weiß er über die Gründe des Wegschauens? Wer im Kriegsjahr 1942 Widerstand übte, für den bestand faktisch Standrecht. Muß man daran erinnern, daß er selber, Platzeck, der einem SED-fernen Elternhaus entstammt, von 1972 bis 1974 seinen Wehrdienst bei der NVA abgeleistet hat, obwohl auch ihm die Morde an der Mauer bekannt gewesen sein müssen? Würde daraus der Vorwurf konstruiert werden, er, Platzeck - anstatt den beschwerlichen, moralisch jedoch sauberen Weg mit Wehrdienstverweigerung, Haft und Berufsverbot zu wählen - habe es sich leicht gemacht und mit der Ableistung seines Wehrdienstes den Todeschützen den Rücken freigehalten, er würde das - zu Recht! - empört zurückweisen.

Bis 1989 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Abteilungsleiter in verschiedenen DDR-Institutionen, was bedeutet, daß er auch in seiner Bürgerrechtler-Zeit die rote Linie nie überschritten hat. Wie also kommt er - und kommen andere Sonntagsredner - dazu, die Deutschen im Dritten Reich an der Elle eines Heldenmuts zu messen, den sie selber unter viel kommoderen Bedingungen niemals aufgebracht haben?

Die jüdische Emigrantin Hannah Arendt hat anhand der Kriegstagebücher Ernst Jüngers die Problematik einer moralischen Existenz in der Diktatur erläutert.

Jünger war in ihren Augen "vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazigegner" gewesen, der bewiesen habe, "daß der etwas altmodische Ehrbegriff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichte. Doch selbst diese unzweifelhafte Integrität klingt hohl; es ist, als ob die Moralität außer Kraft gesetzt und zu einem Hohlraum geworden wäre, in den sich die Person, die den ganzen Tag leben, funktionieren und überleben muß, nur des Nachts und in Stunden der Einsamkeit zurückzieht. Der Tag wird der Nacht zum Alptraum und umgekehrt. Das moralische Urteil, das für die Nacht aufgehoben wird, ist der Alptraum der Angst, tagsüber entdeckt zu werden, und das Leben am Tag ist ein Alptraum des Schreckens, man könnte das intakte Gewissen verraten, das sich doch nur in den Nachtstunden regt."

Wer über das Verhalten der Deutschen im Dritten Reich redet, muß es auf diesem Niveau tun, oder er hat einfach keines. In diesem Fall gilt auch für deutsche Spitzenpolitiker: Einfach den Mund halten!


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