© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/05 09. Dezember 2005

Ein Plädoyer für den Osten
Gerd Koenens Analyse der Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses überrascht sowohl im Detailhaften als auch im Fazit
Eberhard Straub

Die ideologische Konstruktion des "Westens" und der "Westbindung" wurde nach 1945 von den Westdeutschen allmählich zum Staatsmythos ausgeschmückt und als "Wertegemeinschaft" zu einer innerweltlichen Erlösungsanstalt, zur laizistischen Kirche, erhoben. Der Westen steht für Demokratie, Parlamentarismus, Freiheit und vor allem Wirtschaftsfreiheit, also für alles menschheitlich Beglückende. Was nicht eindeutig westlich ist, muß daher mit äußerster Vorsicht behandelt, möglichst gemieden werden. Der äußerste Gegensatz zum Westen ist die mythisierte Fiktion vom Osten als dem Reich des Bösen, in dem immer Versucher lauern, nur unzulänglich Verwestlichte vom Pfad der Tugend wegzulocken.

Wer vom Osten spricht, soll es gemäß westdeutscher Orthodoxie mit Abscheu, Empörung und Trauer tun. Unter solchen Voraussetzungen verlor sich die Erinnerung daran, daß gerade Deutsche und Russen bis 1914 einen selbst für Europäer einzigartigen Austausch untereinander gepflegt hatten. Deutsche waren überall in Rußland anzutreffen, in der Verwaltung, in der Armee, in den Universitäten, in Handel und Industrie. Rußland und die deutschen Staaten waren die meiste Zeit seit Peter dem Großen verbündet, durchaus zum Vorteil der Ruhe Europas, die im 19. Jahrhundert auf der Übereinstimmung der "drei Reiche des Nordens" beruhte: Preußen-Deutschland, Österreich und Rußland. Sie gehörten alle drei zu Europa und waren gleichberechtigt mit den beiden anderen Großmächten. Eine deutsche Schaukelpolitik oder Unzuverlässigkeit gab es nicht, weil jeder mit Rußland verbündet sein konnte und zuletzt die Engländer diese Allianz 1907 suchten - zum Nachteil Deutschlands, zum Nachteil Rußlands und Europas.

Es gibt sehr respektable Erinnerungen an die deutsch-russische Verbindungen, ohne die unsere Geschichte gar nicht zu verstehen ist. Das gilt auch für das Zwanzigste Jahrhundert, in dem die beiden Mächte dennoch zwei große und fürchterliche Kriege miteinander führten. Gerd Koenen lenkt in seinem Buch "Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945" den Blick zurück in die Zeit, als die Konzepte "des Westens" seit 1914 und nach der russischen Revolution 1917 "des Ostens" vor allem von Engländern und Amerikanern entworfen wurden. Deutsche, ausgegliedert aus dem Westen, setzten ihre Hoffnungen auf das neue, revolutionäre Rußland, das seinerseits um Deutschland warb in der Absicht, mit ihm zusammen über den Rhein hinaus Europa zu revolutionieren oder wenigstens im gemeinsamen Kampf gegen die Vorherrschaft und Ausbeutung eines imperialistischen Kapitalismus jeweils Vorteile zu gewinnen, die einer späteren sozialen Revolutionierung mit der Bündelung nationaler Kräfte nicht unbedingt im Wege standen.

Entgegen einer späten Legende aus den fünfziger Jahren hatten die Deutschen insgesamt, wie Koenen zeigt, überhaupt keine "Urangst" vor den Bolschewisten oder ihren "asiatischen" Aktivitäten. Ganz im Gegenteil, sie setzten Hoffnung auf diese neue, junge Bewegung, die sittliche und humanisierende Kräfte mobilisierte, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit den USA, dem Inbegriff reiner Nützlichkeitsbestrebungen und egoistischer Gewinnabsichten. "Der Osten" war für viele Deutsche ein Land der Hoffnung und der Verheißung, endlich die veraltete bürgerliche Welt verlassen zu können, die in die große Katastrophe 1914 hineingeführt hatte.

Der "Westen" sprach von überholten, veralteten Tendenzen, im "Osten" zeigte sich die Morgenröte einer neuen Welt, einer Moderne, eben des Aufbruchs in ganz neue Organisations- und Lebensformen jenseits des bürgerlichen Individualismus und bürgerlicher Egoismen. Nicht im "westlichen" Parlamentarismus findet das Volk zu seiner Repräsentation, sagten die Enthusiasten. Das Parlament sei vielmehr der sichtbare Ausdruck miteinander unvereinbarer Interessenvertretungen, wohingegen in der Wechselbeziehung von Räten sich das wahre Leben als gemeinschaftlicher Wille organisiere. Staat und Gesellschaft oder Nation und Sozialismus sollten miteinander verschmelzen und ungeahnte Energien wecken.

Deutsche, die nach einer Verbindung von Sozialismus und Nationalismus verlangten, nach einem deutschen Sozialismus, der die Widersprüche des angelsächsischen Kapitalismus überwinden würde, entdeckten im russischen Bolschewismus einen Verbündeten, wie die Bolschewisten in den deutschen Überlegungen eine willkommene, eben deutsche Interpretation ihrer Ideen entdeckten. Russen und Deutsche begeisterten einander, mythisierten sich wechselseitig zu Gefährten im Auftrag des Weltgeistes, wie Koenen eindringlich schildert. Für antiquiert hielten beide das bürgerlich-liberale Erbe. Übrigens darin ähnlich den jungen Franzosen, die aus dem Krieg kamen und verbittert bemerkten, daß die liberale Bourgeoisie ihre Spielchen weiter trieb ohne Rücksicht auf die Gefallenen, die unter anderem für ein neues, anderes, sich verjüngendes Frankreich gekämpft hatten.

Die unruhig-intelligente Jugend in Frankreich zweifelte nicht weniger am "Westen" als ihre aufgeregten Gefährten in Berlin oder Moskau. Die strebten dort - wie Italiener, Portugiesen, Polen oder oppositionelle Franzosen - nach neuen Formen der Demokratie und der Volksgemeinschaft. Es gab viele Vermischungen ideologischer Gruppierungen. Nationalismus und Bolschewismus näherten sich einander an, die Konservativen entdeckten das Revolutionäre als ihre Domäne und schwärmten für die Symbiose von Preußentum und Sozialismus. Brave Bürger, die vom liberalen Westen, weil Deutsche, eben nicht als Bürger anerkannt wurden, richteten ihre Erwartungen nun auf den Osten, auf Rußland, das an Gott grenzt, wie Rilke raunte, auf das heilige, schöpferische, alles erneuernde Rußland.

Der deutsche Bürger hatte viel Dostojewski gelesen. Was für Goethes Generation Shakespeare war, das war für die Generation, mit der Koenen sich beschäftigt, Dostojewski, der trotz aller Vorbehalte gegen Deutsche an einem russisch-deutschen Weltentag als rettender Möglichkeit nicht verzweifeln wollte. Die wechselseitigen poetischen Übersteigerungen der deutsch-russischen Wahlverwandtschaft, die jeweilige politische Machtinteressen in feierlichen Dunst hüllten, haben beiden wenig geholfen. Die Deutschen konnten sich nicht offen mit der Sowjetunion verbünden, denn diese war zu schwach, um ihnen eindrucksvolle Hilfe in den Auseinandersetzung mit den Westmächten bieten zu können. Sie konnten den Westmächten höchstens drohen, sich mit Rußland zu verständigen, wobei die Westmächte wußten, daß dies nur eine Drohung blieb, weil Deutschland auf sie angewiesen war bei allen Versuchen, das Diktat von Versailles abzumildern. Außerdem wurde Stalin im Vergleich zu Lenin komplizierter und nationalrussischer, was deutsch-russischen Möglichkeiten Grenzen zog.

Hitler hatte anfänglich überhaupt keine Furcht vor dem Bolschewismus. Er brauchte später einige Zeit, um nationale "Bolschewisten" in der NSDAP zu domestizieren oder auszuschließen. Wie Koenen erläutert, wechselte Hitlers Einstellung zu Rußland und zum Bolschewismus, was seiner Bewunderung für Lenin und Stalin keinen Abbruch tat. Hitler griff 1941 Überlegungen auf, die schon Bethmann-Hollweg beschäftigten, daß der Endkampf zwischen Germanen und Slawen unvermeidlich sei.

Das war die falsche Berechnung eines anglophilen "Westlers", dem Hitler schließlich mit seinen Spekulationen folgte, nachdem er lange auf britischen Beistand, auf "den Westen" gebaut hatte. Das ist die Ironie bei den west-östlichen Wirren und Übereinkünften, daß die deutschen Feinde Rußlands "Westler" waren oder wenigstens mit dem Westen ins Geschäft kommen wollten. Gerd Koenens geistreiches Buch kann, was zu hoffen ist, dazu beitragen, endlich Rußland und den Osten zurückzugewinnen als eine Dimension unserer Geschichte. Nicht zuletzt, um mit dem heutigen Rußland eine historisch vertiefte Partnerschaft zu pflegen. Denn Deutschland und Rußland gehörten immer zu Europa, und die Russen seien auch 1945 als Europäer nach Deutschland gekommen. Doch damit berührt man die Geschichte der DDR, die bislang, weil nicht westlich, eben keine deutsche Geschichte sein darf. Es ist ein weites Feld, auf das Koenen die lockt, die ihm zuhören wollen. Immerhin: Er hat viel zu sagen.

Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945. C.H.Beck, München 2005, 528 Seiten, gebunden, 29,90 Euro

Foto: Platzumbenennung zu Ehren des in Badenweiler 1904 verstorbenen russischen Schriftstellers Anton Tschechow, Juli 2004: Die wechselseitigen poetischen Übersteigerungen der deutsch-russischen Wahlverwandtschaft haben beiden wenig geholfen


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