© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de
49/05 02. Dezember 2005
Phoenix aus der Asche Estland, Lettland, Litauen - hatten viele diese Staaten nicht bereits vergessen? Im August 1989 verlief von Wilna über Riga und Reval eine sechshundert Kilometer lange Menschenkette. Man verlangte die Unabhängigkeit der baltischen Länder, und das Wundersame gelang: Die kleinen Völker schüttelten Moskaus Joch ab. Mehr denn je lohnt es, sich der baltischen Vergangenheit zu widmen. Ralph Tuchtenhagen, Professor für nord- und osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, hat diese empfehlenswerte Gesamtdarstellung verfaßt. Das Baltikum, schreibt der Autor, zerfällt in sehr unterschiedliche Territorien. Zum Kerngebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland, ursprünglich "Altlivland" genannt, zählten Livland im engeren Sinn sowie Kurland und Lettgallen. Die litauische Geschichte, eng mit der polnischen verknüpft, folgte ganz anderen Bahnen. Charakteristisch ist die ethnisch-soziale und kulturelle Gliederung des Baltikums. Der einheimischen Bevölkerung standen herrschende Deutsche und Schweden, Dänen und Russen, auch Polen gegenüber. Obwohl er kaum analysiert, verliert Tuchtenhagen im baltischen Labyrinth nie die Gesamtperspektive. Fremdherrschaft kennzeichnet die Geschichte des Baltikums, wo die Interessen aller Ostsee-Großmächte kollidierten. Ab 1201 eroberte der Schwertbrüderorden, den 1237 der Deutschen Orden inkorporierte, Livland, das nominell ein Reichslehen war, aber vom Kaiser fast nie Unterstützung erhielt. Innenpolitisch gab es häufige Ständekämpfe. Den sozialen Gegensätzen entsprachen die ethnischen. Kolonisierer und autochthone Bevölkerung blieben politisch-sozial gespalten. Litauen konnte der Deutsche Orden nie bezwingen. 1385 entstand die polnisch-litauische Union. Seit der Schlacht bei Tannenberg 1410 schrumpfte die Macht des Ordens. Nun begann der erbitterte Kampf der Ostseeanrainer um das "dominium maris baltici". Abgesehen vom Herzogtum Kurland, das eine gewisse Autonomie wahrte, standen Livland und Estland bis ins frühe 18. Jahrhundert unter polnischer und schwedischer Ägide. Jede Vormacht regierte anders. Absolutismus, Leibeigenschaft und Rekatholisierung der früh protestantisch geprägten Region bestimmten die polnische Zeit, am wenigsten war dank schwedischer Hegemonie das nördliche Estland davon betroffen. Schweden verdrängte im 17. Jahrhundert die übrigen Mächte aus Livland und Estland. Der dortige deutsche Adelsstand wurde gefördert, die Leibeigenschaft reduziert, Universitäten gegründet. Heute dürfte Estland das am weitesten fortgeschrittene baltische Land sein. Während des 18. Jahrhunderts fiel das gesamte Baltikum Rußland zu und erlitt eklatante politische, kulturelle und wirtschaftliche Rückschläge. In Lettland und Estland siedelten in Folge der ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch liberale Reformen ermöglichten Industrialisierung zahlreiche Russen. Gleichzeitig erwachte ein baltisches Nationalbewußtsein, das zunächst auf Sprache und Kultur beschränkt war. Erst 1918/19 erkämpften Estland, Lettland und Litauen die Unabhängigkeit. Ihre demokratischen Systeme wurden schon bald staatsstreichartig beseitigt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geriet die geschundene Region erneut ins Fadenkreuz der Großmächte. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts kassierten die Sowjets das Baltikum. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Anteil der russischen Bevölkerung in der estnischen und lettischen SSR bis auf 42 Prozent an. Dieses Minderheitenproblem ist heute noch latent. Vor einem Jahr traten Estland, Lettland und Litauen der EU und der Nato bei. Heute kann das in die Geschichte zurückgekehrte Baltikum, frei und unabhängig, seine enormen Ressourcen vielleicht einmal dauerhaft entfalten. Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der Baltischen Länder. C.H.Beck, München 2005, 127 Seiten, 7,90 Euro |