© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

BRIEF AUS BRÜSSEL
Wege aus der Krise
Andreas Mölzer

Er sehe "keine wirkliche EU-Krise", erklärte jüngst der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel und beklagte gleichzeitig die mangelnde Akzeptanz Europas durch die Bürger. Diese Aussage ist ein weiteres Zeugnis der Abgehobenheit des EU-Oberen.

Denn gerade die gegen den Willen des Großteils der Bevölkerung beschlossene Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat die EU in die größte Krise ihres Bestehens geführt. Die klare Abfuhr für die zentralistische EU-Verfassung durch die Franzosen und Niederländer hat gezeigt, daß die Europäer nicht länger bereit sind, sich bedingungslos dem Brüsseler Diktat zu beugen.

Daß sich die EU in einer tiefen Krise befindet und daß das Ansehen ihrer Institutionen bei den Bürgern sich dem Nullpunkt nähert, ist nicht weiter verwunderlich. Denn die heutige EU ist das Gegenteil dessen, was die europäische Integration eigentlich sein soll. Wenn es nach dem Willen der Erweiterungsfanatiker geht, soll nicht nur die islamische Türkei, sondern in Folge auch Israel und die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer aufgenommen werden. Statt eines Bundes freier und selbstbestimmter Staaten sollen die europäischen Völker, deren Vielfalt und Verwurzelung in den Traditionen des christlichen Abendlandes die Identität unseres Kontinents erst ausmacht, in den Brüsseler Kerker gezwängt und ihrer Eigenart beraubt werden.

Will Schüssel, der sich immer gerne als "großer Europäer" bezeichnet, den Glaubwürdigkeitsverlust der EU und ihrer Institutionen stoppen, dann wird er nicht umhin kommen, als EU-Ratschef die wirklich heißen Eisen anzupacken.

Die Beitrittsverhandlungen mit Ankara müßten abgebrochen und allen Versuchen, die gescheiterte EU-Verfassung wieder zum Leben zu erwecken, eine klare Absage erteilt werden. Vor allem aber müßte das für die Zukunft Europa entscheidende Problem, jenes der schrankenlosen Einwanderung mit all ihren Folgen, behandelt werden. Hier böte ein sofortiger Einwanderungsstopp der EU-Nomenklatura die Möglichkeit, den Bürgern zu beweisen, daß sie im Gegensatz zu den politisch korrekten Tugendwächtern deren berechtigte Ängste und Sorgen ernst nimmt.

Auch die Folgen der hemmungslosen Globalisierung zeigen, daß die Bürger ein anderes als das von Brüssel verordnete Europa wünschen. Nicht ein Europa der Liberalisierung in den Diensten internationaler Konzerne, sondern ein Europa, das für soziale Sicherheit und für die Schaffung von ausreichenden Arbeitsplätzen steht. In diesem Bereich hat die im letzten Jahr überhastet vorgenommene Erweiterung der EU gezeigt, daß die Aufnahme von Ländern, deren Sozialstandards unter dem EU-Durchschnitt liegen, nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sondern nur den Verdrängungswettbewerb fördert.

Dennoch hat die EU aus diesen negativen Erfahrungen nichts gelernt. Spätestens 2008 sollen mit Rumänien und Bulgarien (die aber klar zur europäischen Völkerfamilie gehören) zwei Billiglohnländer aufgenommen werden, deren Wettbewerbsfähigkeit und Sozialstandards noch weit von dem durch die Erweiterungsrunde 2004 ohnehin gesenkten EU-Durchschnitt entfernt sind. Will die EU aber effiziente Maßnahmen gegen das den sozialen Frieden gefährdende Lohndumping setzen, dann müssen diese Beitritte um Jahre verschoben werden.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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