© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

Die Woche
Ein historischer Tag
Fritz Schenk

Kein Zweifel: Dieser 22. November 2005 war ein historischer Tag für Deutschland. Wer Angela Merkel nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin, der ersten Frau an der Regierungsspitze unseres Vaterlandes, den Ostausgang des Reichtagsgebäudes verlassen sah, um beim Bundespräsidenten ihre Ernennungsurkunde in Empfang zu nehmen, konnte sich dem historischen Hauch dieses Augenblicks nicht verschließen.

Genau an der Stelle, an der sie ihre Limousine bestieg, hatte vor sechzehn Jahren noch die Mauer gestanden. Direkt dahinter verlief der Todesstreifen, und daran angrenzend lag das heruntergekommene Palais des Reichtagspräsidenten, auf dessen marodem Dach die Wächter der Stasi und es SED-Grenzschutzes noch mit Maschinenpistolen Wache hielten. Das Brandenburger Tor war noch verriegelt, aber durch die seit dem 9. November 1989 geöffneten Durchlässe der Mauer strömten die bisher Eingeschlossenen und genossen die erste Luft von Freiheit.

In jenen Tagen machte auch eine junge Physikerin aus der nördlichsten und zurückgebliebensten DDR-Provinz erste Gehversuche auf dem bis dahin für sie verschlossenen politischen Terrain. Und ausgerechnet sie hat es nun an die Regierungsspitze Deutschlands geschafft. Was für eine Karriere! Sie ist es in mehrfacher Hinsicht. Natürlich zuerst als Mitteldeutsche, dazu als Frau, das auch noch in der CDU, und zudem als kaum erkennbar religiös hervorgetretene Protestantin. Wer so etwas geschafft hat, darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Zu viele schon hatten sie auf ihrem bisherigen Weg im wiedervereinigten Deutschland unterschätzt.

Auch daß es ihr gelang, die zweite Große Koalition in Deutschland nach 1945 zustande zu bringen, gehört zu ihren persönlichen Leistungen und offenbart Ausdauer, Durchsetzungswillen und Führungsstärke. Diese aber muß sie erst jetzt tatsächlich beweisen. Denn die Koalitionsvereinbarung zwischen der Union und der SPD, die hohe Zustimmung dazu in beiden Regierungsfraktionen, auch das relativ gute Ergebnis bei ihrer Wahl zur Kanzlerin und das gelobte "gute Klima" unter den Koalitionären dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß damit noch nichts bewirkt ist. Wenn nicht mehr passieren würde als nur die Verwirklichung des bisher zu Papier Gebrachten, bliebe Deutschland nicht nur in der Krise hängen, sondern würde sie verschlimmern.

Doch ob, wie weit und in welchem Tempo ihr die SPD zu wirklichen Reformen folgen wird, muß die nähere Zukunft erweisen. Fingerzeige dafür werden schon die ersten Wochen des neuen Jahres geben, wenn es im März in den Bundesländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zu Landtags- und in Hessen zu Kommunalwahlen kommt.

Gespannt dürfen wir auch auf die erste Regierungserklärung von Angela Merkel sein. Die Harmonie im schwarz-roten Bündnis verhindert ja wahrscheinlich schon, daß sie den Zustand des Landes und die Hinterlassenschaft Gerhard Schröders in der Offenheit beschreiben kann, die notwendig wäre, um Parlament und Öffentlichkeit den Ernst der Lage und die volle Dringlichkeit tiefgreifenderer Veränderungen, als sie die Koalitionsvereinbarung skizziert, deutlich zu machen. Noch ist also offen, ob aus dem historischen Tag auch eine historische Epoche wird.


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