© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Ironie im Mundwinkel
Kino: Philip Grönings Dokumentation "Die große Stille"
Martin Lichtmesz

Wenige Filme der letzten Zeit sind mit einer solchen Einmütigkeit enthusiastisch gefeiert worden wie Philip Grönings preisgekrönte Dokumentation "Die große Stille", die nach ihrer Weltpremiere auf dem Filmfestival in Venedig nun regulär in den Kinos zu sehen ist - begleitet von einem Werbeaufwand, der sich mit größeren Prestigeproduktionen messen lassen kann.

Angesichts des spröden Themas dieses Films ist das ziemlich erstaunlich. Der 1959 geborene Gröning hat sich praktisch im Alleingang in das Stammkloster der Kartäuser in den französischen Alpen, die Grande Chartreuse, begeben und monatelang den Alltag der in härtester Askese lebenden Mönche gefilmt. Die Erlaubnis dazu erhielt er nach über einem Jahrzehnt Wartezeit.

Das Ergebnis ist allemal außergewöhnlich. Zweieinhalb Stunden lang begleitet Gröning die Mönche beim Beten und Arbeiten. Er verzichtet dabei auf Musik, Kommentar und "sprechende Köpfe". Wir sehen die Kartäuser beim Haareschneiden, Holzsägen, Essen, Schreiben und Katzenfüttern, in der Messe, auf Holzbänken knieend, Choräle singend, und während der sonntäglichen Spaziergänge, jener seltenen Zeiten, in denen das Sprechen erlaubt ist. Grönings geduldige Kamera bleibt stets in respektvoller Distanz. Viele Szenen wurden unter spärlichsten Lichtverhältnissen gedreht, da dem Regisseur der Einsatz von Lampen untersagt war.

Die Mönche selbst erscheinen wie fremdartige, würdevolle Fabelwesen, die ihr Ego weit hinter sich gelassen haben. Gröning zeigt ihr streng reglementiertes Leben in den Kreislauf der Natur eingebettet. Die Jahreszeiten wechseln im Lauf des Films, in Panorama-Totalen bricht die Nacht über das abgelegene Tal im Zeitraffer herein, und in Close-Ups grünen und fallen die Blätter.

Einen Film, der "selbst mehr Kloster als Abbild" ist, wollte Gröning drehen. Angesichts der Härte, Unbequemlichkeit, aber auch Langeweile eines Klosters ist das ein wahrhaft publikumsfeindlicher Entschluß. Der Kinobesuch als puritanisches Exerzitium ist sonst nur die Sache weniger hartgesottener Cineasten, die in die Kinematheken wie zum Gottesdienst gehen. Darüber hinaus ist das Sujet im Grunde unverfilmbar. Wie Kino und Kloster wahre Antithesen sind, so sind das Sakrale und die Kamera unversöhnliche Feinde. Ersteres verschwindet zuverlässig, sobald die profanisierende Linse auftaucht.

Grönings Ernsthaftigkeit und Sensibilität ist es zu verdanken, daß er diese Falle vermieden hat. Die natürliche Würde der Mönche, die Majestät der sie umgebenden Natur, das Wunder, daß ein solcher Film überhaupt möglich war, all das hat dann auch vom Feuilleton bis zum Boulevard Ehrfurcht ausgelöst. "Der Film ist keine Dokumentation. Er ist eine Verkündigung", tönte etwa vollmundig die B.Z.

Dieser verdiente Respekt sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß "Die große Stille" trotz allem ein eher strapaziöses Unterfangen geworden ist, das vor allem im Schnitt die angebrachte formale Strenge vermissen läßt. Es ist leider keine organische Zeit, die den Film derart in die Länge zieht, sondern eine am Schneidetisch geschundene. Willkürlich plaziert wirken auch die sich wiederholenden Titel mit Evangeliumsworten.

Gänzlich überflüssig sind die eingestreuten Super-8-Aufnahmen, die den Verdacht aufkommen lassen, daß nicht nur hier filmischer Tiefsinn bloß suggeriert wird. Ihre unwirkliche Verwaschenheit läuft der erklärten Absicht Grönings zuwider, "absolute Präsenz" zu zeigen. Das ist aber bei einem reinen Dokumentarfilm ohnehin kaum möglich. Es bedarf hier der Alchimie aus hoher, inspirierter Artifizialität und "realer Gegenwart" (George Steiner), die die Höhepunkte des metaphysischen Kinos von Ozu bis Tarkowskij ausmacht. Diese Muse war leider nicht wirklich anwesend in Grönings Film.

Das Geheimnis der Mönche wird glücklicherweise nicht gelüftet. Einige Sequenzen des Films zeigen Nahaufnahmen ihrer Gesichter. Sie blicken beinah direkt in die Kamera. Scheu und Skepsis sind darin zu lesen, aber in manchem Auge und Mundwinkel auch eine milde, überlegene Ironie.


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