© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Pankraz,
Hans Jonas und die Schrecken der Natalität

Relativierendes zum Totensonntag: Nicht die Toten, nicht die Gestorbenen sind das wahre Verhängnis und das wahre Rätsel, sondern die Lebenden, die Geborenen. Respice finem, heißt es allenthalben, "gedenke des Endes!" Es wird Zeit, daß man dem einen weiteren Imperativ, einen Gegen-Imperativ, an die Seite stellt: Respice initium, "gedenke des Anfangs!"

Womit nicht irgendein Anfang gemeint ist, sondern eben die Geburt, der Anfang des Lebens. Die Geburt ist die Urkatastrophe, aus der sich sämtliche weiteren Katastrophen ergeben, inklusive der Katastrophe des Todes. Alle guten Nachdenker haben das gewußt. "Nicht geboren zu sein, ist das Beste", kündete schon Sophokles, und der weise Humorist Wilhelm Busch nahm den Faden auf, indem er anno 1878 in seinen "Haarbeuteln" die folgenden, gewissermaßen unsterblichen Verse dichtete:

"Eh' man auf diese Welt gekommen / Und noch so still vorlieb genommen, / Da hat man noch bei nichts was bei: / Man schwebt herum, ist schuldenfrei, / Hat keine Uhr und keine Eile / Und äußerst selten Langeweile. / Allein, man nimmt sich nicht in acht, / Und schwupp! ist man zur Welt gebracht ... / Zuerst hast du's noch gut, mein Sohn, / Doch paß mal auf, man kommt dir schon!"

Das trifft den Nagel auf den Kopf. Höchstens gegen die letzten beiden Verse über das Guthaben in den ersten Wochen ließe sich einwenden, daß die Betroffenen, also die Neugeborenen, das ganz anders empfinden. Über den unsäglichen Schrecken, den die Geburt auslöst, kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Das Neugeborene reagiert darauf mit einem Entsetzensschrei, und seine noch lange tief zerknitterte, konsequent abweisende Miene bringt uns mit schneidender Deutlichkeit bei, daß es unendlich viel lieber ungeboren geblieben wäre und sich nur unter größten Mühen in die neue Lage hineinfindet.

Die "Natalität", die "Geburtlichkeit", so polemisierte Hans Jonas gegen Heidegger und andere Existentialisten, verhängt viel ernstere, gewaltigere Zwänge über uns als die Mortalität, die Sterblichkeit, und das Eingedenken des kommenden Todes. Die Natalität ist der eigentliche Feind unserer Freiheit. Wir können sie nicht wählen, noch ihr entrinnen, und sie legt die Bedingungen unserer Existenz von vornherein und unrevidierbar zu mindestens neunundneunzig Prozent fest.

Daß wir in dieser Zeit und an diesem Ort geboren sind, daß wir diese Eltern haben und keine anderen, diese genetische Ausstattung und keine andere, daß wir Männchen oder Weibchen sind, weiß oder schwarz, schön oder häßlich, kerngesund oder zu langer Krankheit und Siechtum bestimmt - gegen all das können wir nichts machen, all das ist unabwendbares Schicksal.

All unsere Bemühungen, solchem Schicksal zu entgehen, die Lage zu optimieren und unseren eigenen Willen ins Spiel zu bringen, verblassen dagegen zu hilflosen Schönfärbereien, die allenfalls ein bißchen Tünche auftragen können, ein bißchen Milderung bringen.

Der Tod selbst ist ein Kind des Lebens, nicht dessen Widersacher. Im Bereich der leblosen Natur gibt es den Tod nicht. Atome und Moleküle sind auf ihre Art unsterblich. Ein Unbelebtes braucht nicht für sein Dasein Sorge zu tragen, es "ist" einfach. Das Leben dagegen muß sich für sein Dasein unermüdlich abstrampeln, muß sich dauernd erneuern, um nicht vorzeitig zu sterben. Der Tod ist die dauernde Herausforderung des Lebens, verleiht ihm Struktur und Dynamik, macht es zu einem Wagnis.

Und was für den einzelnen Lebenden gilt, das gilt in noch stärkerem Maße für die Abfolge der Generationen. Die ganze Höherentwicklung des Lebens war doch davon abhängig, daß immer neue Individuen hervorgebracht wurden, daß die alten abtraten und neue, in denen gewisse Veränderungen erfolgt waren, an ihre Strelle traten. Wir können nicht Jugend haben, ohne daß das Alter schließlich abtritt. Wir können nicht neues Leben haben, ohne daß die Alten schließlich sterben und begraben werden.

Hans Jonas (in einem großen Interview mit Pankraz aus dem Jahre 1987): "In der ständigen Selbsterneuerung, in der es immer wieder Individuen gibt, die die Welt zum ersten Mal mit eigenen Augen sehen und ihren eigenen Weg finden müssen und, anknüpfend an das, was ihre Vorgänger getan haben, nun das menschliche Unternehmen weiterführen mit der ganzen Frische des Neuanfangs - darin besteht ja gerade die besondere Chance des Menschen, seine einzige. Ohne das würden wir in einer entsetzlichen Routine des Alles-schon-festgelegt-Habens versinken."

Pankraz mag diese Interview-Stelle sehr und hat sich ihrer immer erinnert. Nur aus dem neu aufblühenden Leben neuer Generationen, sagt Jonas, entsteht Hoffnung. Das ist das eine. Aber die neuen Generationen müssen an das, was ihre Vorgänger getan haben, unbedingt "anknüpfen", das ist das andere. Jedes Totengedenken, das seinen Namen verdient, ist ein solches Anknüpfen, und es ist nicht weniger wichtig. Nur dadurch entsteht jene "Frische des Neuanfangs", von der Jonas spricht, reale Weiterentwicklung statt Herumgestümper in Bezirken, die von den Vorgängern längst durchschaut und veredelt wurden.

Erinnerungs- und respektloses Herumgestümper wäre nicht weniger entsetzlich als die Routine des Alles-schon-festgelegt-Habens, ja, es wäre mit ihr identisch. Leben und Tod, Natalität und Mortalität verschlingen sich gegenseitig, in jeder Beziehung des Wortes, und es kann zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen. Die Art, wie wir mit den Toten umgehen, entscheidet darüber.

"Der Sonne und dem Tod kann man nicht unverwandt ins Antlitz schauen", lautet eine bekannte Maxime La Rochefoucaulds. Glücklicherweise gibt es Sonnenbrillen, und es gibt Todesbrillen, die eigentlich Lebensbrillen sind.


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