© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Am Anfang steht - nichts
Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat einen denkbar schlechten Start hingelegt
Thorsten Hinz

So sieht also das Ergebnis aus, wenn die großen Volksparteien ihren Sachverstand vereinen, um "das Beste für unser Land" (Angela Merkel) zu erreichen: Die Blinden weisen der Politik den Weg, und die Lahmen bestimmen das Tempo. Man nennt das auch "Schnittmenge", "kleinster gemeinsamer Nenner" oder, für Anspruchsvolle, "Pragmatismus".

Über das Niveau des Koalitionsvertrags konnte seit Franz Münteferings Erklärung, Milch und Honig würden zwar nicht fließen, aber kräftiges Brot und ordentlich Aufstrich drauf würde es geben, kein Zweifel bestehen. Münteferings Ankündigung erinnerte an die lustigen Honecker-Sprüche von der Sorte: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf." Genauso ist es 1989 ja auch gekommen.

Zunächst einmal ist es ein merkwürdiger Ausweis für die real existierende Demokratie in Deutschland, daß der Bundestag als berufene Volksvertretung seit seiner Wahl vor zwei Monaten stumm geblieben ist zu den Zukunftsfragen des Landes. Erst ganz am Ende darf er en bloc darüber abstimmen, was von Parteifunktionären ausgekungelt und von Parteitagen abgesegnet worden ist. Seine Reduktion zur Filiale der Parteienoligarchie schreitet weiter voran.

Und statt mit einem Ruck beginnt die neue Regierung mit einem Verfassungsbruch, indem sie einen Haushalt vorlegt, den das Grundgesetz verbietet. Mit welchem Recht will sie jetzt noch vom Bürger Respekt für sich und andere staatliche Institutionen, zum Beispiel für das Finanzamt, einfordern? Union und SPD senden ein verheerendes Signal aus, das die Bürger verstehen und aus dem sie ihre privaten Konsequenzen ziehen werden. Soviel zur geistig-moralischen Initialbotschaft der Großen Koalition.

Die politische Botschaft des 191 Seiten langen Koalitionspapiers besteht vor allem darin: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, von der Union einst gedacht zur Finanzierung einer umfassenden Steuerreform, die das Land aus seiner ökonomischen und mentalen Lähmung befreien sollte, muß nun dazu herhalten, den maroden Sozialsystemen frisches Geld zuzuschießen, auf daß ihr Umbau noch ein paar Jahre länger aufgeschoben werden kann. Es werden verlorene Jahre sein.

Ein Konjunkturprogramm von 25 Milliarden Euro soll Aufschwung und Wachstum bringen. Damit wird auf eine Politik zurückgegriffen, mit der in den siebziger Jahren der Weg in den Schuldenstaat begann. Die Hoffnung auf mehr Wachstum, auf eine nennenswerte Ankurbelung der Binnenkonjunktur und einen neuen Konsumrausch ist realitätsfern in einem Land, in dem es immer weniger junge Menschen gibt, wo folglich immer weniger Familien und Haushalte gegründet werden. Da die Politiker vor allem auf ihre Talkshow-Kompatibilität achten, werden solche Grundsatzfragen gar nicht erst verhandelt.

Diesen Ansatz als "Pragmatismus" zu bezeichnen, als ein Politikkonzept also, das sich an Nützlichkeit und praktischem Erfolg orientiert, ist ein demagogischer Trick, um das in sich widersprüchliche, chaotische Gewurstel zu verschleiern, das den Problem- und Frustrationsstau permanent vergrößert. Im umlagefinanzierten Rentensystem zum Beispiel müssen immer mehr Ältere von immer weniger Jungen durch immer höhere Beiträge versorgt werden, zu beidseitiger Unzufriedenheit.

Die Ankündigung, es werde "keine Rentenerhöhung" geben, ist ein Euphemismus, der vertuschen soll, daß via Steuererhöhungen und Inflation eine Rentenkürzung stattfindet. Diejenigen, die heute 45 und jünger sind, können sich ausrechnen, daß die staatliche Rente, in die sie ab 2025 eintreten werden, allenfalls für ein Leben auf Sozialhilfeniveau reichen wird. Deshalb wird ihnen zur Privatvorsorge geraten, doch genau dafür beläßt man ihnen immer weniger Mittel, ja die Selbstvorsorge wird bestraft. Die nochmalige Kürzung des Sparerfreibetrags trifft ja keine Multimillionäre, sondern verantwortungsbewußte Kleinsparer, die aus bereits versteuerten Einkommen für Notfälle und für ihr Alter Rücklagen bilden wollen. Die Botschaft des Staates an sie lautet: Gebt euer Geld freiwillig aus - zur Ernährung der Wachstums-Chimäre -, sonst hole ich es mir per Gesetz! Unter dem Schlagwort "soziale Gerechtigkeit" schafft sich der Parteienstaat ein Millionenheer von Abhängigen.

Gegen diese Darstellung ließe sich einwenden, daß die Bürger das aktuelle Desaster mit der Wahlentscheidung vom 18. September selber angerichtet haben. Das haben sie in der Tat. Ihre Grundeinsicht, daß Reformen notwendig sind und daß diese, anders als in der Vergangenheit, statt Verbesserungen materielle Einschränkungen bedeuten, wurde von der Angst konterkariert, die Lasten nicht tragen zu können.

Diese Angst aber ist die Folge fehlender politischer Führung. Der Sinn der repräsentativen Demokratie besteht schließlich darin, daß die konkurrierenden Gruppen der politischen Elite sich mit unterschiedlichen Konzepten zur Wahl stellen, die von den Wählern auf ihre Plausibilität und mit Blick auf die eigene Lebenswirklichkeit geprüft werden. Doch welche Wahl hatten die Bürger denn?

Die Union schürte die grassierende Furcht zusätzlich, indem sie den Staatsbankrott an die Wand malte und als Alternative dazu den Staat als ein auf Effizient getrimmtes Wirtschaftsunternehmen anpries. Unternehmen setzen aber, um effizient zu bleiben, regelmäßig und in immer größerer Zahl Humankapital frei. Welcher Staatsbürger wird dieses Schicksal freiwillig auf sich nehmen?

Einzig der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof hatte den Ehrgeiz, sein Steuer- und Finanzmodell mit einer gesellschaftspolitischen Zielvorstellung zu verbinden, deren Kernpunkte Leistungsanreiz, Familienfreundlichkeit und Bürgerfreiheit lauteten. Es war der einzig nennenswerte Versuch der letzten Jahre, die praktische Politik ideell zu unterfüttern, sei es durch eine Leitkultur, ein Wertefundament oder die Vision des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mit der Vermittlung dieser Vision zeigte die Wahlkampfmannschaft der Union sich hoffnungslos überfordert.

Die Art und Weise, wie die SPD diese Schwachstelle ausnutzte, war wahltaktisch verständlich, staatspolitisch aber ein Versagen. Kanzler Schröder, um sich einen guten Abgang zu verschaffen, denunzierte sogar die richtigen Ansätze der eigenen Politik. Das Ergebnis ist so unausweichlich wie trostlos: Angela Merkel hat sich ihren späten Mädchentraum von der Kanzlerschaft erfüllt, die SPD ihre Pfründen behauptet.

Den ehrlichsten Part spielt paradoxerweise Edmund Stoiber. Seine Fahnenflucht nach München signalisiert: Es hat keinen Zweck mit dieser Regierung!


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