© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

"In der türkischen Community brodelt es"
Einwanderung: Politiker und Wissenschaftler diskutieren über die Folgen der Ausschreitungen in Frankreich / Warnung vor Panikmache
Josef Hämmerling

Tausende brennende Autos, unzählige Verletzte und sogar Tote. Was in Frankreich durch randalierende jugendliche Einwanderer bereits Realität wurde - droht das nun auch in Deutschland? Während die meisten Politiker das eher als eine theoretische Gefahr sehen, warnt die Berliner Anwältin und Bürgerrechtlerin Seyran Ates: "In der türkischen Community brodelt es."

In einem Interview mit der Berliner Zeitung antwortete Ates, die vom Deutschen Staatsbürgerinnen-Verband wegen ihres Engagements gegen Kopftuch und Zwangsheirat zur "Frau des Jahres 2005" gewählt wurde, auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, daß es auch in Kreuzberg zu Massenkrawallen und brennenden Autos komme: "Wir werden diese Zustände bekommen, wenn wir nicht aufpassen. Da fallen bereits seit einigen Jahren jugendliche Migranten durch besondere Zerstörungswut auf."

Ates verwies auf den "Ehrenmord" an der 23jährigen Türkin Hatun Sürücü, die - mutmaßlich - von ihren drei Brüdern umgebracht wurde, weil sie ihren türkischen Ehemann verlassen hatte und ein eigenständiges Leben führen wollte. Nach Aussagen der Freundin des Türken, der geschossen haben soll, habe dieser einmal während einer U-Bahnfahrt auf Deutsche gezeigt und gesagt: "Das sind schlechte Menschen, wenn du die tötest, ist das keine Sünde." Solche Ideen entstünden bei Menschen, die in Ghettos aufwüchsen.

Ein wirksames Gegenmittel hierfür wäre nach Ansicht Ates' die Auflösung dieser Ghettos, indem man den dort lebenden Familien Anreize zum Umzug in bessere Gegenden bietet. Sie zeigte sich zuversichtlich, daß "mehr als die Hälfte der Migrantenfamilien sofort umziehen würde". Alleine auch deswegen, "weil man dann der sozialen Kontrolle durch die anderen entgeht".

Die Möglichkeit von Unruhen wollen auch der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), und der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) nicht ausschließen. Zwar seien die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Frankreich nicht identisch, aber "dennoch kann man nicht bestreiten, daß es bei uns besorgniserregende Entwicklungen und die Bildung von Parallelgesellschaften gibt", sagte Bosbach der Netzeitung. Als "extremste Form" hierfür bezeichnete der CDU-Politiker den inzwischen verbotenen Kölner Kalifstaat des islamischen Extremisten Metin Kaplan.

Beckstein wies im Südwestfunk darauf hin, daß in den meisten Moscheen in Deutschland zwar ein friedlicher Islam gepredigt werde. Doch seien bei einigen "arabischen Sekten" oder bei der islamischen Organisation Milli Görüs "Extremisten am Werk", die Haß predigten und bereits "Selbstmordanschläge verharmlost" hätten. Neben ihm forderten auch weitere Unionspolitiker, so zum Beispiel der designierte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, mehr und bessere Integrationsbemühungen als bisher. Hierzu gehöre insbesondere auch die Beherrschung der deutschen Sprache.

Vor Panikmache warnt aber der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit. "Ghettos wie in Frankreich gibt es hier nicht", sagte er der Berliner Zeitung. Auch habe das soziale Netz in der Bundesrepublik bisher funktioniert. Dies und das duale System der Berufsausbildung verhindere zudem eine Ausgrenzung junger Einwanderer und ihrer Kinder.

Nicht ganz so optimistisch ist sein Parteikollege Hans-Christian Ströbele. Zwar gebe es "derzeit keine Anhaltspunkte" für eine ähnlich dramatische Entwicklung in Deutschland. Allerdings habe sich das vor wenigen Monaten auch in Frankreich niemand vorstellen können. Wenn man die Emotionen anheize, "dann kann ein Funke zu nicht absehbaren Konsequenzen führen", sagte der Vizechef der Grünen-Bundestagsfraktion der Berliner Zeitung.

"Keine Anzeichen für französische Zustände" sieht die Bürgermeisterin von Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg, Cornelia Reinauer. Einen Grund hierfür sieht die 52jährige, die der Linkspartei/PDS angehört, vor allem darin, daß sich die Polizei in Kreuzberg frühzeitig als Ansprechpartner präsentiert habe und nicht erst dann, als es bereits zu spät war, in Gestalt prügelnder Polizisten.

Ebenfalls optimistisch gibt sich der Konflikt- und Gewaltforscher Klaus Hurrelmann. In Deutschland gebe es keine "tragfähige Motivation" für einen derartigen Flächenbrand. Im Gegensatz zu Frankreich sei nicht eine ganze Ausländergeneration der Hoffnungslosigkeit ausgesetzt, sagte Hurrelmann der Neue Westfälische Zeitung. Vielmehr diene das gute Schul- und Ausbildungssystem als Auffangbecken.


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