© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Bereit für den Absprung
Regierungsbildung: Mit Matthias Platzeck an der Parteispitze halten sich die Sozialdemokraten in der Großen Koalition alle Optionen offen
Paul Rosen

Die SPD kann eigentlich zufrieden sein. Ihre Führungskrise hat sie schneller als erwartet beendet. Auf Franz Müntefering folgt Matthias Platzeck. Dennoch sind die Spitzengenossen im Berliner Willy-Brandt-Haus nervös. Auf dem am Montag beginnenden SPD-Bundesparteitag muß nicht nur Platzeck mit einem ordentlichen Ergebnis ausgestattet, sondern auch die Koalitionsvereinbarung mit der Union abgesegnet werden. In einem Brief an die Genossen forderte Müntefering bereits Solidarität der Basis ein. Motto: Wir wollen diese Koalition.

Stoiber hat auf den passenden Augenblick gewartet

Es fragt sich nur, wie lange die SPD in dieser Koalition bleibt. Müntefering, der alte Techniker der Macht, hatte die Sozialdemokraten eigentlich gut auf die ungewohnte Regierungsbildung vorbereitet. Für den Verzicht auf das Kanzleramt schlug er acht Ministerien heraus, darunter die besonders wichtigen Ressorts Außen und Finanzen. Die CDU und ihre designierte Kanzlerin Angela Merkel scheinen in dieser Koalition eingemauert zu sein. CSU-Chef Edmund Stoiber, in Machtfragen ähnlich erfahren wie Müntefering, zog es bereits vor, sich nicht in Berlin einmauern zu lassen, sondern in München zu bleiben. Den Rücktritt von Müntefering nahm er nur als Anlaß, um aus einer ausweglosen Situation auszubrechen.

Münteferings Rechnungen gingen aber nicht auf. Die SPD-Spitze legte sich plötzlich quer, als der Vorsitzende als Ersatz für den ausscheidenden Generalsekretär Klaus Uwe Benneter den SPD-Parteiangestellten Kajo Wasserhövel installieren wollte. Das war der erste Fehler. Wasserhövel mag ein guter Manager sein, aber er ist kein Politiker, hat keine Hausmacht. Schon schickten sich die SPD-Linken, verbündet mit den mehr in der politischen Mitte stehenden Netzwerkern, an, Wasserhövel zu demontieren. Müntefering erkannte das offenbar zu spät. Bei einer überraschenden Abstimmung im SPD-Parteivorstand gewann die Vertreterin der Linken, Andrea Nahles, deutlich gegen Wasserhövel. Müntefering hätte damit dem Parteitag eine Kandidatin als seine rechte Hand in der Parteiführung vorschlagen müssen, die er nicht mochte.

Der Chef tat, was jeder Parteivorsitzende in dieser Situation getan hätte: Er trat zurück. SPD-Politiker wie die baden-württembergische Landesvorsitzende Ute Vogt vergossen danach Krokodilstränen. Wenn man gewußt hätte, daß Müntefering zurückgetreten wäre, hätte man Wasserhövel gewählt. Doch steht die Öffentlichkeit vor der interessanten Situation, daß die Berufspolitiker im SPD-Parteivorstand angeblich nicht wußten, welche Lage sie schaffen, wenn sie dem Chef de facto ein Mißtrauensvotum aussprechen.

Dahinter streckt mehr als eine Personalie. Die SPD war kaum auf die Große Koalition eingestellt, und wenn, dann wäre sie das Bündnis mit der Union am liebsten mit Gerhard Schröder an der Spitze eingegangen und nicht in der Rolle des kleineren, wenn auch gut bedachten Partners. Teile der Partei, besonders die westdeutschen Linken, würden lieber mit der Linkspartei und den Grünen zusammengehen oder eine Minderheitsregierung bilden, die sich die Mehrheiten von Fall zu Fall sucht und dabei Union und Linkspartei gegeneinander ausspielen kann.

Müntefering dagegen wollte die Große Koalition für vier Jahre. Der aus dem Sauerland stammende Politiker ist verläßlich. Auf sein Wort hätten sich Merkel und Stoiber verlassen können. Jetzt ist Müntefering der klassische Fall einer "Lame Duck" (lahmen Ente). Er rückt zwar in die Regierung als Sozialminister ein und wird sogar Vizekanzler, aber Macht in der SPD hat er nicht mehr. Diese Macht übernimmt der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck, ein Politiker, der bislang in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung trat und außerhalb seines Heimatlandes kaum bekannt gewesen sein dürfte. Platzeck hat alle Optionen offen. Er kann seinen Abstand zu Merkel fast beliebig vergrößern und sich ein eigenständiges Profil gegen die designierte Kanzlerin aufbauen. Im günstigsten Fall wird es Platzeck gelingen, alle Unannehmlichkeiten wie die vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung von sich abzuschütteln und bei der Union abzuladen.

Die SPD dürfte sich mit dieser neuen Konstellation wesentlich wohler fühlen als unter ihrem Zuchtmeister Müntefering, obwohl der sogar sehr erfolgreich mit der Union verhandelt hat. Die CDU/CSU gab zentrale Forderungen schnell auf, ohne Gegenleistungen zu erhalten, und dürfte sogar die "Reichensteuer" schlucken.

Abschied von der Reform des Arbeitsmarktes

Bereits in der ersten Verhandlungsrunde verzichtete die Union auf die Besteuerung von Sonntags- und Nachtzuschlägen. Auch von einer umfassenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktreform wie noch im Wahlkampf ist längst keine Rede mehr. Die Senkung der Lohnzusatzkosten dürfte nicht im gewünschten Umfang kommen, weil das meiste Geld aus der Mehrwertsteuererhöhung zum Stopfen von Löchern im Bundeshaushalt verwendet werden dürfte.

So hinterläßt Müntefering seiner Partei ein großes Erbe. Er führte sie aus dem Tief im Frühjahr heraus und brachte sie fast wieder auf gleiche Höhe mit der Union. In der kommenden Koalition wird die SPD eine gute Stellung haben. Zugleich hat sie die Chance, sich unter Platzecks Führung schnell aus dem Bündnis mit der Union zu lösen. Beweglichkeit, das wissen Militärs schon lange, ist ein großer Vorteil. Merkel hat ihn nicht.


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