© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Aufklärung ohne Konsequenzen
Zwei Werke betrachten die Geschichte der Völkermorde, bei denen auch "der Westen" nicht gut abschneidet
Stefan Scheil

Die Vereinten Nationen haben 1948 die "Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" beschlossen. Unter Völkermord sind demnach nicht nur Tötungen von Angehörigen eines Volkes zu verstehen, sondern auch die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden bei ihnen, außerdem Maßnahmen zu Geburtenverhinderung und schließlich der Raub ihrer Kinder. Diese allgemeine Deklaration hätte es ohne den Einfluß des Aufklärungsdenkens nicht gegeben, das im allgemeinen in Verbindung mit einer bestimmten Himmelsrichtung verortet wird: dem Westen. Wie es nun mit dessen Haltung zu den selbst erhobenen Maßstäbe steht, danach fragt der von Adam Jones herausgegebene Sammelband.

Unter dem Westen versteht der Herausgeber die industrialisierten Demokratien Westeuropas, Nordamerikas mit der Ausnahme Mexiko und dazu noch Australasiens. Rußland, Israel und Südafrika bleiben ausgeklammert. Deutschland ist mit dem Kolonialkrieg gegen die Hereros auf der Anklagebank vertreten, womit also das Kaiserreich als westliche Demokratie betrachtet wird. Als einzige "westliche" Nation tauchen die Deutschen wegen des Bombenkriegs der Alliierten zugleich in der Opferrolle auf. Der ebenfalls vom Westen mit zu verantwortende Völkermord an den Ostdeutschen nach 1945 wird aber nicht berücksichtigt.

Die meisten Beiträge richten sich gegen die amerikanische Politik. Die Vorwürfe gegen die USA sind unterschiedlich. Kalter Genozid durch die Pressung indianischer Kinder in das amerikanische Schulsystem, Greuel in Indonesien, Bombardements ziviler Ziele und andere Kriegsverbrechen in Vietnam und Kambodscha - exemplarisch steht das Massaker von My Lai 1968, Subversion in Chile, Unterstützung der Diktatur in Somalia, Tatenlosigkeit während des Völkermords in Ruanda, völkerrechtswidriger Boykott gegen den Irak und ein nicht gerechtfertigter Angriffskrieg auf Jugoslawien während der Kosovo-Krise stehen unter anderem auf der Liste. Angeklagt werden auch die belgische Kongopolitik und Frankreich wegen des Algerienkriegs. Stillschweigend ausgespart bleibt die britische Kolonialpolitik.

Moralische Empörung durchzieht das Buch. Konkrete Forderungen nach Wiedergutmachung aller Art werden von verschiedenen Autoren erhoben. Die Begründungen leiden allerdings an einem starren und manchmal widersprüchlichen Verständnis von Politik. Nachweislich trug die Chile-Politik des mehrfach angegriffenen Henry Kissinger in der Tat dazu bei, den alten lateinamerikanischen Scherz mit neuem Inhalt zu füllen, in Washington fände nur deshalb nie ein Militärputsch statt, weil es dort keine US-Botschaft gebe. Andererseits verglich der unter Henry Kissingers Mitwirkung gestürzte Salvador Allende die Perspektiven seiner Politik für Lateinamerika selbst mit denen der russischen Oktoberrevolution. So drängt sich der Gedanke an die ungezählten Millionen auf, die nicht ermordet worden wären, wenn die von England organisierte Subversion in Moskau 1918 ähnlich erfolgreich gewesen wäre wie die amerikanische später in Santiago. Die parallelen Anklagen wegen Untätigkeit und Einmischung beschreiben letztlich das Dilemma aller Politik, immer nur einen einzigen Versuch zu haben. Handeln wie Nichthandeln kann direkt oder indirekt Völkermord verursachen.

Mit den Genoziden des Westens beschäftigt sich notwendigerweise auch Arthur Grenke in seiner "Weltgeschichte des Genozids". Grenke nimmt in zwei Kapiteln den Anlauf zu einer Erzählung, einmal über "Ideologische Genozide, die als Holocaust bezeichnet werden" und dann über "Kolonisierung und Genozid".

Grenke beginnt die Reihe der ideologischen Genozide mit den Überlieferungen in der Bibel über die Eroberung Palästinas. Das Alte Testament liefert bekanntlich eine ganze Anzahl an Beschreibungen, wie dabei im Namen Gottes Völkermord verübt worden sei. Das Deuteronomium erhebt das gar in gewisser Weise zum Programm: "Du wirst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott für dich bestimmt," zitiert Grenke eine Stelle, an der die Vernichtungsabsicht an anderen Völkern nur durch ein pragmatisches Argument eingeschränkt wird: "Du kannst sie nicht zu schnell aufreiben, sonst möchten der wilden Tiere dir zu viele werden." Wie im Rahmen von Völkermordbeschreibungen häufig anzutreffen, so ist auch hier die Information darüber schlecht, inwiefern dies zutrifft. Die Bibel ist die einzige Quelle, die solches wörtlich berichtet, und dies nicht widerspruchsfrei, denn das Buch Richter spricht eine ganz andere Sprache über die Besiedlung Palästinas. Grenke neigt dazu, die Völkermordberichte für authentisch und das Buch Richter für die Beschreibung einer späteren Epoche zu halten.

Als weitere ideologische Völkermorde nennt er die Hexenverfolgung in Europa, die Armenier-Greuel des Ersten Weltkriegs, die Verfolgung der Kulaken in der stalinistischen Sowjetunion sowie die Vernichtung des europäischen Judentums. Grenke macht als gemeinsames Merkmal aller dieser Taten aus, daß "die Gruppe, die man zur Vernichtung auserkoren hatte, als Kollektiv betrachtet wurde, das man für stark genug hielt, um die Gesellschaft, die sie ausscheiden wollte, negativ zu beeinflussen". Allerdings gebe es keine Beweise dafür, daß auch nur eine dieser Gruppen zu den Taten in der Lage gewesen wäre, die man ihnen vorgeworfen habe.

Beide Bücher sind lesenswert. Ein Rezept gegen Völkermord können sie nicht andeuten. Thukydides tat vor mehr als zwei Jahrtausenden die Äußerung, wirkliche Rechtsbeziehungen zwischen Völkern könne es nur zwischen gleichstarken Parteien geben. Daraus läßt sich schließen, daß der Genozid als größtmögliches Unrecht zwischen den Völkern den Augenblicken extremer Machtunterschiede vorbehalten ist, was der seither beobachteten historischen Erfahrung auch weitgehend entspricht. Einen Weg, solche Unterschiede durch eine Deklaration aus der Welt zu schaffen oder wirkungslos werden zu lassen, hat noch niemand gefunden.    

Adam Jones (Hrsg.): Völkermord, Kriegsverbrechen und der Westen. Parthas Verlag, Berlin 2005, 534 Seiten, gebunden, 38 Euro

Arthur Grenke: Völkermord. Weltgeschichte des Genozids. Herbig Verlag, München 2005, 420 Seiten, gebunden, 39,90 Euro

Foto: Opfer des US-Massakers im vietnamesischen My Lai, März 1968: Gegen selbst erhobene Maßstäbe


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