© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Volle drei Monate mit Blindheit geschlagen
Ein kanadischer Offizier beschreibt den Unwillen der Uno-Führung, 1995 rechtzeitig in Ruanda durchzugreifen
Werner Olles

Der Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda reiht sich relativ nahtlos in die Geschichte des an Völkermorden nicht gerade armen zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und doch fällt er insofern aus dem üblichen Rahmen, als hier in nur drei Monaten über eine Million Menschen mit Macheten und Äxten zerhackt, mit Keulen erschlagen, erschossen, zu Tode geprügelt, lebendig verbrannt, in Stücke gerissen, aufgehängt, zu Tode vergewaltigt, zum Selbstmord gezwungen, überfahren oder in Latrinen ertränkt wurden. Festgenommenen schnitt man die Achillessehnen durch, damit sie nicht mehr weglaufen konnten, was Zehntausende Tutsi einem elenden Tod aussetzte. Über die Hälfte der Ermordeten waren Kinder, auch dies ist ein Novum in der Geschichte der Völkermorde und Massenausmordungen.

Generalleutnant Roméo Dallaire, geboren 1946, aufgewachsen in Montreal in ärmlichen Verhältnissen, beeinflußt von der Aufbruchstimmung in der frankokanadischen Provinz Quebec der sechziger Jahre, machte Karriere in der Armee seines Landes, als ihm Mitte 1993 völlig überraschend das Kommando der geplanten Uno-Friedensmission in Ruanda angetragen wurde. Im August landete er in Kigali, voller Zuversicht, mit seinen Blauhelmtruppen das von den ruandischen Bürgerkriegsparteien vereinbarte Abkommen von Arusha durchsetzen zu können. Als er Anfang 1994 von geheimen Waffenlagern der Hutu-Milizen erfuhr und diese notfalls mit militärischer Gewalt ausheben wollte, wurde ihm das vom zuständigen Uno-Abteilungsleiter Kofi Annan strikt untersagt. Drei Monate später brachen die Massaker aus, die sich binnen kurzem als geplanter Völkermord entpuppen sollten, was der UN-Sicherheitsrat jedoch bestritt, da er sonst aufgrund seiner eigenen Charta ein erheblich stärkeres Kontingent mit "robustem Mandat" hätte entsenden müssen.

Dallaire und seine kleine Truppe aus belgischen, senegalesischen, uruguayischen und ghanesischen Soldaten blieben weiterhin auf sich allein gestellt. Gegen ihren Willen auf Befehl der Uno-Zentrale in New York zum Nichtstun, Abwarten und Zuschauen gezwungen, wurden der General und seine 250 Männer hilflose Zeugen eines grauenhaften Gemetzels. Selbst als am 22. April die Uno-Anweisung zum Abzug sämtlicher Blauhelme kam, hielt die Truppe weiter aus und verlor schließlich 15 Mann. Doch all ihre Selbstlosigkeit und Tapferkeit konnten die entsetzlichen Ereignisse nicht aufhalten. Im August 1994 ließ sich Dallaire, zutiefst erschüttert, nervlich zerrüttet, gebrochen und wegen ständiger Selbstvorwürfe dem Selbstmord nahe, von seinem Posten abberufen. Sechs Jahre später mußte er wegen seiner posttraumatischen Störungen den Dienst in der kanadischen Armee quittieren. Er hat Jahre gebraucht, bis er endlich die Kraft fand, die Geschichte des Völkermordes in Ruanda zu Papier zu bringen. Im letzten Jahr trat er als Zeuge vor dem Arusha-Tribunal auf und ist heute Sonderberater der kanadischen Regierung für kriegsgeschädigte Kinder.

"Handschlag mit dem Teufel" beschreibt nicht nur den "schnellsten Völkermord der Weltgeschichte" (Rupert Neudeck), sondern auch das völlige Versagen der Uno, die hier ihre Irrelevanz, Korruption, Dekadenz und ihre Unfähigkeit, Konflikte zu lösen, einmal mehr unter Beweis stellte. Andere sehen die Hauptschuld beim Sicherheitsrat, bei den USA und vor allem Frankreich, die eine internationale Intervention weder anführen noch unterstützen wollten, dafür aber jede Menge verrotteten Materials lieferten. Interessant ist auch die Rolle der so gern in den Himmel gehobenen "nichtstaatlichen Organisationen" und der sogenannten Friedensbewegung, die offensichtlich volle drei Monate mit Blindheit geschlagen waren. Selbst der Vatikan drückte angesichts der klerikal geprägten und von sich als fortschrittlich ansehenden belgischen Priestern geförderten Hutu-Organisationen offenbar ein Auge zu, obwohl die größten Leichenberge während des ruandischen Genozids in katholischen Kirchen lagen. Jegliche Hilfe verweigerten auch die französischen, deutschen und belgischen Botschaften, die sogar die Ausrüstung von Dallaires Männern mit nicht-letalen Polizeiwaffen ablehnten, und dies, obwohl sie als erste die zivile Gewalt verurteilt hatten.

Dallaires Erinnerungen sind ein wahrlich erschütternder Augenzeugenbericht über die Abgründe menschlicher Bestialität und über das vollkommene Desinteresse westlicher Politiker, dem Völkermord Einhalt zu gebieten.

Roméo Dallaire: Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2OO5. 649 Seiten, gebunden, 27,9O Euro

Foto: Exhumierte Tutsi-Opfer des Völkermordes in Ruanda 1995: Auf Befehl der Uno-Zentrale in New York zum Nichtstun gezwungen


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