© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Tränen der Freude
Die Weihe der Fauenkirche setzt ein Zeichen des Aufbruchs für ganz Deutschland / Impressionen aus Dresden
von Marcus Schmidt

Sie kann ihr Glück noch immer nicht fassen. Aufgeregt wippt Helga Cierpiol hin und her und schaut erwartungsvoll aus dem Fenster ihres Abteils. "Bei der ersten Verlosung bin ich leer ausgegangen", sagt die Kölnerin und rückt ihren Hut zurecht. Doch dann, "am vierten Oktober", habe sie doch noch eine der begehrten Karten für den Weihegottesdienst der Dresdner Frauenkirche bekommen. Damit gerechnet hatte sie längst nicht mehr.

Jetzt sitzt sie nach einer unruhigen Nacht im Zug Richtung Prag und erzählt von der Frauenkirche. "Gleich müßte man sie sehen können", sagt die ältere Dame, deren elegante Kleidung nicht so recht zu den beengten Verhältnissen im Nachtzug passen will. Und dann taucht die Frauenkirche das erste Mal auf, kurz nur ist sie zu sehen, sogleich wird sie wieder von Bäumen und Häusern verdeckt, an denen der Zug auf seinem Weg in die Dresdner Innenstadt vorbeirattert. Als er die Elbe überquert, bietet sich Helga Cierpiol für einige Augenblicke der berühmte Canalettoblick auf Dresden. Jetzt im Morgendunst, wenn die Silhouette sich wie ein Scherenschnitt gegen den Himmel abhebt, wirkt die Dresdner Stadtansicht seltsam zeitlos. Alle Gebäude sind gleichsam farblos. Zwischen Alt und Neu, zwischen hellem und altersschwarzem Sandstein ist nicht zu unterscheiden. Die neuerstandene Frauenkirche wirkt in diesem Augenblick fast so, als habe sie nie gefehlt.

Fast andächtig versammeln sich die Bürger der Stadt

In Dresden wird Frau Cierpiol aussteigen und die einst prachtvolle Prager Straße, die nach den Verheerungen des Krieges heute mit häßlicher DDR-Architektur und belangloser Moderne vollgestellt ist, hinab zum Neumarkt gehen, den jetzt wieder die Frauenkirche beherrscht. Die Katholikin hat mehrmals für den Wiederaufbau einer der bedeutendsten Kirchen des Protestantismus gespendet.

Bereits 1990 hatte sie der Startrompeter Ludwig Güttler bei einem Konzert in Köln für den Wiederaufbau begeistert und gleichzeitig ihr Interesse an Mitteldeutschland geweckt. "Als die Mauer noch stand, habe ich mich nie für die DDR interessiert", sagt sie heute. 1998 fährt sie erstmals nach Dresden, Reisen nach Brandenburg und Rügen folgen. Der Wiederaufbau hat der Frau vom Rhein das Land zwischen Oder und Elbe nähergebracht. Nun hofft sie, daß der Wiederaufbau ein Aufbruchzeichen für ganz Deutschland wird und hilft, die vielbeschworene innere Einheit voranzubringen.

Schon Stunden vor dem Beginn des Gottesdienstes haben sich Abertausende Menschen auf dem Neumarkt und in den umliegenden Straßen und neuentstandenen Gassen versammelt. Rechtzeitig zur Fertigstellung der Frauenkirche gewinnt auch der Stadtraum in ihrer unmittelbaren Umgebung seine Gestalt zurück. Die ersten Neubauten rings um den Neumarkt und die angrenzenden Straßen sind im Rohbau fertiggestellt. Sie orientieren sich in ihren Proportionen und in der Fassadengestaltung an der barocken Vorkriegsbebauung.

Auch hier ist es wie beim Wiederaufbau der Frauenkirche der Initiative von Bürgern zu verdanken, daß die Stadt an dieser Stelle ihre alte Gestalt zumindest annähernd zurückerhält. Seit Jahren bemüht sich ein rühriger Verein darum, Bausünden zu verhindern und die Bebauung um den Neumarkt wieder auferstehen zu lassen. Der Mix aus den historischen Fassaden sogenannter Leitbauten und den in gemilderter Form auftretenden modernen Gebäuden, der in den vergangenen Monaten bereits entstanden ist, findet mittlerweile breite Unterstützung.

In der gesamten Stadt herrscht an diesem Morgen eine sonderbar heitere und unaufgeregte Stimmung. Trotz der zahlreichen Straßensperrungen gibt es in der Altstadt kein Geschiebe und Gedränge. Fast andächtig versammeln sich die Bürger um den imposanten Steinbau. Der Wind trägt derweil die Klänge von mehreren hundert Posaunen durch die Stadt. Aus ganz Sachsen sind die Musiker angereist, um auch vor der Kirche für eine feierliche Stimmung zu sorgen. Ein Volksfest ganz ohne die sonst übliche "Freßmeile".

Als endlich die Prozession der kirchlichen Würdenträger mit den Altargegenständen, darunter ein vierhundert Jahre alter Kelch aus der alten Frauenkirche, von der Bühne auf dem Neumarkt ihren Weg durch die Menge zur Kirche nimmt, breitet sich eine andächtige Stille aus. Durch den Weihegottesdienst, das begreifen die Menschen instinktiv, wird der Bau erst wieder zum Gotteshaus. Helga Cierpiol sitzt da bereits auf einem der begehrten 1.800 Plätze innerhalb der Frauenkirche, zusammen mit einigen hundert Spendern und der kompletten deutschen Staatsführung.

In der Menge, die nun dem Gottesdienst lauscht, der auf mehreren Videoleinwänden in der Stadt übertragen wird, finden sich viele ältere, grauhaarige Dresdner, die die Zerstörung ihrer Stadt miterlebt oder in ihrer Kindheit noch auf den Trümmern gespielt haben. Aber auch viele jüngere Familien sind mit ihren Kindern gekommen, um dem einmaligen Ereignis beizuwohnen.

Etwas abseits des Treibens steht Rosmarie Schubert. Sie hat den hellen Sandsteinbau mit seinen schwarzen Einsprengseln, der jetzt in der Morgensonne leuchtet, fest im Blick. Die zierliche Frau aus Magdeburg war schon einmal in Dresden: am 13. Februar 1945. Mit ihrer Mutter und den vier Geschwistern hatte die damals Zehnjährige am Morgen auf der Flucht aus Breslau bei einer Tante im Zentrum der sächsischen Metropole Unterschlupf gefunden. Am Abend kamen die Bomben. "Wir liefen durch die brennenden Straßen. Ich habe immer noch den Kinderwagen vor Augen, den der Feuersturm hoch hinauf in einen Baum gehoben hatte."

Plötzlich ist das Grauen wieder gegenwärtig. Tränen laufen der Frau über die Wangen. "Wir liefen zum Großen Garten, dorthin wo es dunkel war." Dort, wo kein Feuer war: Feuer, das in dieser Nacht auch die Frauenkirche verzehrte und sie zwei Tage später einstürzen ließ. Die Frau wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und blickt zur Kirche empor, die strahlend vor ihr steht. "Manchmal denke ich noch an damals, aber heute freue ich mich einfach, daß die Kirche wieder steht. Das ist wunderbar."

Wunderbar. Aber ist die Wiederauferstehung der Frauenkirche auch ein Wunder? Viel war in den Tagen vor der Weihe von einem Wunder gesprochen und geschrieben worden, dem "Wunder von Dresden". Tatsächlich erscheint es einem in einem Land, das seit Jahren von einer Reformdiskussion zur nächsten wankt, in dem vergeblich um eine Reform des Gemeinwesens gerungen wird, auf den ersten Blick wie ein Wunder, daß eine Aufgabe wie der Bau einer Barock-Kirche im 21. Jahrhundert gelingen kann. Noch dazu ohne maßgebliche Unterstützung durch "die Politik", finanziert aus Spenden und ohne daß die zu Beginn der Bauarbeiten berechneten Kosten wesentlich überschritten wurden.

Und doch geht fehl, wer den Wiederaufbau auf ein Wunder, auf etwas Unerklärliches reduzieren will. Denn der Wideraufbau ist durchaus zu erklären. Er ist der Hartnäckigkeit engagierter Bürger zu verdanken, die an ihrem Vorhaben trotz aller anfänglichen Widerstände unbeirrt festgehalten haben. Im Rückblick erscheint der Wiederaufbau vielen fast wie ein Stein gewordener Ruck, der Tausende Menschen mitgerissen hat und der aus der Umbruchzeit der zusammenstürzenden DDR in die graue deutsche Gegenwart hinüberreicht.

Derweil beschwört Bundespräsident Horst Köhler im Anschluß an den Festgottesdienst den Geist der Frauenkirche, der "Menschen im ganzen Land in Bewegung gesetzt, uns begeistert und miteinander verbunden hat". "Unser Land braucht mehr als nur Gewerbegebiete", sagt Köhler in der Frauenkirche und findet damit gewiß weit über Dresden hinaus Zustimmung.

Nicht nur Helga Cierpiol hofft, daß die Energie und Begeisterung, die den Aufbau der Kirche getragen haben, sich erhalten und auf das gesamte Land übertragen lassen. Doch vielleicht ist die Zeit bereits darüber hinweggegangen. Als Bundeskanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 seine umjubelte Rede vor der Ruine der Frauenkirche hielt, tat er dies vor einem Meer aus schwarzrotgoldenen Fahnen. Am Weihesonntag war in der Dresdner Innenstadt nicht eine Deutschlandfahne zu sehen.

Kaum ist der letzte Choral in der Kirche verklungen, die Gäste des Weihegottesdienstes machen sich gerade daran, die Kirche zu verlassen, ertönt von der Bühne an der Frauenkirche englische Gospel-Musik. In Sekundenschnelle verwandeln sich der Neumarkt und die umliegenden Straßen und Gassen dank der viel zu lauten Musik aus Dutzenden Lautsprecherboxen in einen Rummelplatz. "Fest der Freude" nennen es die Organisatoren und verstehen darunter neben den zweifelhaften musikalischen Darbietungen viele belanglose Plaudereien. Ein Schauspieler liest Brechts Kinderhymne und Kästners Verse "Wenn wir den Krieg gewonnen hätten". Von andächtiger Stimmung ist da längst keine Spur mehr. Im Anschluß singen junge Leute auf der Bühne "Get together".

Die Frauenkirche bleibt von alldem unberührt. Sie strahlte an diesem Tag nach innen. Auch hier sind, genauso wie bei der Rekonstruktion der äußeren Hülle, trotz aller Widerstände keine Kompromisse eingegangen worden. Das Kircheninnere ist erfüllt von leuchtenden Farben, der Sandstein, den die Kirche nach außen zur Schau trägt, ist hier aufgepinseltem Marmor gewichen. Der Unterschied zwischen Alt und Neu, der von außen so augenfällig ist, ist im inneren wie weggezaubert. Selbst die einst verrußten Wände des Chors, in dem große Teile des Altars die Jahrzehnte überdauert haben, sind geweißt, der Altar ist frisch vergoldet. Dennoch wirkt nichts steril oder künstlich. Die Kirche vermittelt die Illusion, als sei sie frisch renoviert. Aber bereits der erste Gottesdienst hat die ersten Gebrauchsspuren hinterlassen. Hier eine kleine Schramme im Kirchengestühl, dort eine abgestoßene Ecke - die Kirche setzt Patina an.

In der geleerten Kirche beginnt nach dem Weihegottesdienst der Alltag. Schon seit dem frühen Morgen stehen die ersten Besucher hinter den Absperrungen und warten auf Einlaß. Hunderte Meter lang sind die Schlangen, die Wartezeit mißt sich längst nur noch nach Stunden. Für sieben Minuten dürfen jeweils 400 von ihnen nach stundenlangem Warten in die Kirche und an einer Andacht teilnehmen. "Einfach nur mal gucken" gibt es nicht.

Zahlreiche Kirchendiener, die als Erkennungszeichen ein rotes Halstuch tragen, bereiten sich auf den Ansturm der Neugierigen vor. Ein letztes Mal proben sie die Abläufe und Ansagen während der Andacht.

Dann öffnen sich die Türen, und die Bürger nehmen die Kirche nach 60 Jahren wieder in Beschlag. Zögerlich, fast ängstlich bahnen sich die ersten, getragen von der einsetzenden Orgel, den Weg in den imposanten Innenraum. Staunend bleiben einige schon am Eingang stehen. Die nachdrängenden Besucher erinnern sie daran, daß es gilt, sich möglichst schnell einen guten Platz zu sichern. Nicht stehenbleiben. Köpfe recken sich und drehen sich. Blicke gehen empor in die atemberaubende Kuppel mit ihren vom Künstler Christoph Wetzel nachgeschöpften Barock-Bildern des Venezianers Giovanni Battista Grono. Auch der prachtvolle goldglänzende Altar, der von der von einem Straßburger Orgelbauer geschaffenen Orgel bekrönt wird, wird ehrfurchtsvoll bestaunt. Viele habe ihre Fotoapparate dabei - manche halten ein Taschentuch in der Hand. Eine junge Frau weint.

Schließlich tritt ein Kirchendiener auf die Kanzel, die sich wie der Bug eines Schiffes in den Kirchenraum schiebt. Ein Text aus der Heiligen Schrift wird vorgetragen - die Frauenkirche ist kein Museum, sollte nie eines sei. Schon bei Baubeginn stand fest: Hier entsteht eine Predigerkirche, in der das Wort Gottes verkündet wird - und missioniert wird. Nicht nur in dem weitgehend entchristlichten Dresden ist dies nötig. Als am Ende der Andacht der Segen erteilt werden soll, muß der Kirchendiener die Besucher bitten, aufzustehen - viele, so scheint es, erleben zum ersten Mal in ihrem Leben eine Andacht.

Der Trümmerhaufen ist längst Geschichte

Nachdem die Orgel geendet und jeder einen Platz gefunden hat, setzt unvermittelt Chorgesang ein. Sachte legt sich ein gedämpfter Klangteppich über die Besucher. Wo eben noch andächtige Stille herrschte, breitet sich nun Unruhe aus. Wieder werden Köpfe gedreht, gereckt. Doch nichts. Der neu formierte Chor der Frauenkirche bleibt unsichtbar. Für die Menschen tief unten im Kirchenraum unsichtbar, stehen die Sänger hoch oben um die Öffnung der inneren Kuppel versammelt. Die Frauenkirche verzaubert die Menschen vom ersten Tag an.

Christine Wange strahlt. Zu DDR-Zeiten hatte die Dresdnerin nie damit gerechnet, daß aus dem rosenberankten Schutthaufen jemals wieder eine Kirche erwachsen könnte. "Ich liebe meine Stadt", sagt sie. "Ich bin seit 1990 viel herumgekommen in der Welt, aber Dresden gefällt mir immer noch am besten." Und jetzt erst.

Auch Stunden nach dem Weihegottesdienst stehen die Menschen noch zu Tausenden um die Frauenkirche herum und staunen. Immer wieder unterbrechen sie ihre Gespräche und schauen zu dem Gotteshaus hinauf, als wollten sie sich vergewissern, daß die Kirche noch steht. Als versuchten sie zu ergründen, ob sich die Kirche mit der Weihe auch äußerlich verändert hat.

Auf einer der großen Videoleinwände läuft unterdessen zum wiederholten Mal ein Film über den Wiederaufbau. Noch einmal werden die Bilder des Schutthaufens gezeigt, der über Jahrzehnte an die vergangene Pracht des Barockbaus erinnert hat. "War das wirklich alles, was von der Kirche übrig war?" fragt eine junge Frau erstaunt.

Die Zeit der Ruine ist endgültig vorbei, der Steinhaufen beginnt dem Vergessen anheimzufallen. Bald werden die Älteren so von dem Schutthaufen sprechen, wie sie einst, als der Steinhaufen noch das Bild bestimmte, von der sagenhaft gewordenen Kirche erzählten. Die Zeit der Trümmer ist Geschichte. Die Wunde ist geheilt.

Fotos: Das Innere der wiederaufgebauten Frauenkirche in Dresden während des Weihegottesdienstes am vergangenen Sonntag: Die barocke Pracht vergangener Jahrhunderte ist bis ins kleinste Detail neu entstanden

Fotos: 

Neu errichtetes Bürgerhaus: Zurückgewonnener Stadtraum

Alte und neue Fassadenteile: Nur äußerlich sind die Spuren zu sehen

Erste Besucher bestaunen die Kirche: Der Blick geht empor

Restaurierter Altar: Zusammengesetzt aus unzähligen Teilen

Tausende Bürger verfolgen den Gottesdienst auf dem Neumarkt: Feierliche Stimmung


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