© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

"Suizid muß möglich sein"
Ludwig Minelli, Leiter des umstrittenen "Sterbehilfe"-Vereins Dignitas, über seine Forderung nach einem Recht auf Selbstmord
Moritz Schwarz

Herr Minelli, die Eröffnung des ersten Dignitas-Büros in Deutschland am 26. September in Hannover hat eine heftige Debatte entfacht. Niedersachsens Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) möchte die "geschäftsmäßige Vermittlung von Möglichkeiten zur Selbsttötung" künftig unter Strafe stellen.

Minelli: Ein Hinweis vorab: In Hannover ist ein selbständiger deutscher Verein gegründet worden. Über die Initiative von Frau Heister-Neumann bin ich keineswegs unglücklich, denn das wird die Politik zwingen, das Thema Sterbehilfe endlich zu diskutieren.

Sie beklagen, daß Politik und Medien in Deutschland Dignitas und Ihr Anliegen stets falsch darstellen. Was paßt Ihnen nicht?

Minelli: Zum Beispiel, daß sie Dignitas stets auf die Toten reduzieren: Nur Tote bringen Quote.

Ist das nicht naheliegend bei einem "Sterbehilfeverein"?

Minelli: Nein, wir verlängern und verbessern viel mehr Menschenleben, als wir verkürzen. Außerdem wollen wir, daß endlich die Suizidzahlen reduziert werden, die bislang von der Politik klaglos hingenommen werden. Laut Statistischem Bundesamt beendeten in Deutschland 2003 mehr als 11.000 Personen ihr Leben selbst. Da von 50 Suizidversuchen nur einer gelingt, muß mit jährlich rund 540.000 gescheiterten Suizidversuchen gerechnet werden. Nicht selten tragen die Opfer schwerwiegende irreversible gesundheitliche Schäden davon. Die kosten das Gesundheitswesen Deutschlands rund 20 Milliarden Euro jährlich. Wenn sich die Politik schon nicht um diese Menschen sorgt, weshalb sorgt sie sich nicht um die Kosten?

Was schlagen Sie vor?

Minelli: Heute lautet der Ansatz der Suizidprophylaxe: Suizid darf nicht sein. Damit wird das Tabu erst geschaffen. Wer sein Leben beenden möchte, kann sich deshalb mit niemandem darüber besprechen: Er muß befürchten, sein Gesicht zu verlieren; spricht er gar mit einem Arzt, verliert er die Freiheit, weil er eingewiesen wird.

"Den Selbstmord begrüßen? - Ja!"

Ihre Schlußfolgerung: Erlaubt die Selbsttötung, dann findet sie nicht mehr statt?

Minelli: Ich sage klar, daß Suizid ermöglicht werden muß, aber mit zwei Bedingungen: Man geht nicht auf große Reise, ohne das Reisebüro konsultiert zu haben. Und man geht nicht auf große Reise, ohne sich von seinen Angehörigen und Freunden verabschiedet zu haben. Eine ständige Aufklärung über nicht mehr funktionierende und Risiken der bedingt funktionierenden Suizidmethoden sowie glaubwürdige Beratungsstellen müssen ergänzend hinzukommen. Nur so wird es möglich, vor einem ersten Suizidversuch mit der Vorbeugung einzusetzen. Die Schweizer Erfahrungen beim Schwangerschaftsabbruch, wo die Dinge ähnlich lagen, sind eindeutig: Die Zahlen sinken seit der Legalisierung. Dignitas macht die Erfahrung, daß siebzig Prozent der Menschen, denen wir mitteilen, ein Arzt sei bereit, ihnen das erlösende Rezept zu schreiben, sich nicht mehr melden. Und nicht nur das. Unsere Zusage kann auch eine Situation nachweisbar verbessern: 2002 hatten wir den Fall eines Aids-Kranken, dessen Blutwerte sich nach der ärztlichen Zusage des Rezepts derart verbesserten, daß er statt nur noch weniger Wochen wieder eine Perspektive auf mehrere Jahre vor sich sah.

Von den Ärzten kommt der Tod?

Minelli: Ich zitiere Eugen Roth: "Was bringt den Doktor um sein Brot? a) Die Gesundheit b) Der Tod. Drum läßt der Arzt, damit er lebe, uns zwischen beiden in der Schwebe." Mit Kranken werden Umsätze in der Gesundheitsindustrie gemacht. Das wird oft vergessen. Moderne Ärzte sind nicht gegen das selbstbestimmte Ende bei schwerer Krankheit. Diese Möglichkeit sollte generell begrüßt werden.

Den Selbstmord begrüßen?

Minelli: Ja. Menschen sollten selbst entscheiden können, wann sie genug gelebt haben.

Zur Klarstellung: Dignitas fordert keine Indikationsregelung - etwa eine schwere unheilbaren Krankheit als Bedingung -, sondern ein unbedingtes Recht auf Beendigung des eigenen Lebens.

Minelli: Wir fordern das nicht, das ist heute schon so. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat im Urteil in der Sache Diane Pretty gegen Großbritannien vom 29. April 2001 gesagt, er könne nicht ausschließen, daß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht eines Menschen, sein eigenes Leben zu beenden, garantiere. Der Artikel schützt das Privatleben. Ein Menschenrecht kann nicht von einer medizinischen Voraussetzung abhängig sein. Es ist deshalb unzulässig, irgendeinen staatlichen, kirchlichen oder medizinischen Paternalismus walten zu lassen.

"Wir haben Volksabstimmung, darum haben wir Sterbehilfe"

Ihrer Argumentation ist nicht abzusprechen, daß sie die gesellschaftlich vorherrschende Idee des Individualismus konsequent zu Ende denkt. Wie argumentieren Sie aber gegenüber Menschen, die - zugegeben, in den permissiven Gesellschaften der westlichen Welt keine Mehrheit - das Leben des Menschen keineswegs als seine Privatsache betrachten, sondern den Menschen in eine übergeordnete soziale, vielleicht sogar religiöse Verantwortung gestellt sehen?

Minelli: Deshalb möchten wir, daß die Menschen nicht ohne Beratung und Abschied in den Tod gehen. Denn Sterben in Würde heißt auch, in Verantwortung vor Gesellschaft und Angehörigen zu handeln.

Was halten Sie eigentlich vom christlichen Menschenbild?

Minelli: Gar nichts, das Christentum - gleich welcher Konfession - ist eine grauenhafte Religion, die im Laufe von zweitausend Jahren viele Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Und ich bin mir sicher, daß sowohl dem gegenwärtigen wie dem vorhergehenden Papst eines Tages auch die von ihnen zu verantwortenden Millionen von Toten - Stichwort katholische Behauptungen, Kondome hätten Löcher, und das Verbot der Benutzung von Kondomen - zur Last gelegt werden.

Widerspricht Ihre Philosophie nicht auch den Geboten der aufklärerischen Humanität?

Minelli: Ganz im Gegenteil!

Sehen Sie sich in der Tradition der Aufklärung?

Minelli: Auf jeden Fall! Ich würde sogar sagen, wir müssen die Aufklärung zu Ende führen! Das Recht auf selbstbestimmten Tod ist doch die letzte Konsequenz eines selbstbestimmten Lebens.

Wohl deshalb ist Ihre Idee im Volk so populär, auch wenn die Gesetzeslage dem nicht entspricht. Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage befürworteten 76 Prozent der Befragten bei einer medizinischen Indikation die Tötung auf Verlangen. Laut einer Forsa-Umfrage von 2002 sprachen sich gar 82 Prozent der Befragten für eine "gesetzliche Regelung" aus - ohne daß in der Frage überhaupt von einer Indikation als Bedingung die Rede war!

Minelli: Eben, hier haben wir es mit einer unanständigen und undemokratischen Vorherrschaft der gesellschaftlichen Eliten zu tun, die das Volk bevormunden.

Im Grunde ist dieser Umstand erstaunlich, fühlen sich diese Eliten doch gemeinhin gegenüber dem Volk als Avantgarde der Aufklärung. Wie erklären Sie sich das?

Minelli: Für jede herrschende Elite ist die Idee des autonomen Individuums im Grunde eine Bedrohung ihrer Vormachtstellung. In der Schweiz haben wir im Gegensatz zu Deutschland Volksabstimmungen, das ist mit ein Grund, warum wir auch Sterbehilfe haben.

Es ist allerdings anzunehmen, daß den Menschen auch deshalb das Angebot der Sterbehilfe so verlockend erscheint, weil sie sich nicht im klaren darüber sind, welche Konsequenzen ein damit verbundener Dammbruch langfristig haben könnte. Wenn sich die Menschen erst einmal an den Selbstmord als etwas Normales gewöhnt haben, ist doch absehbar, daß sie diesen mehr oder weniger offen von allen einfordern werden, die sie als eine unzumutbare persönliche oder finanzielle Belastung empfinden, also Alte, Kranke, Behinderte, etc.

Minelli: Nein, alle empirischen Daten widerlegen diese Befürchtungen.

Wie das?

Minelli: Assistierter Suizid wird erfahrungsgemäß nur von einer verschwindenden Minderheit in Anspruch genommen. Nach einer Studie des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin wählt einer von tausend Herz-Kreislauf- oder Atmungskranken diesen Weg, von 1.000 Multiple-Sklerose-Kranken gerade mal 45. Die Zahlen sind stabil. Seitdem im Jahre 2000 in Zürichr Alten- und Pflegeheimen assistierter Suizid zugelassen wird, gibt es pro Jahr zwei bis drei Fälle, bei insgesamt 1.600 Personen, die dort wohnen.

Das sind gerade einmal fünf Jahre. Von der Veröffentlichung der Rassenlehre des Grafen Gobineau bis zur Verfolgung der Juden unter Hitler brauchte es immerhin achtzig Jahre.

Minelli: Wesentlich ist, daß nur der Mensch, der gehen will, entscheidet. Deshalb ja auch assistierter Suizid und nicht Tötung durch einen Dritten. Nicht zuletzt die Erfahrung mit dem Rassenwahnsinn hat zur Schaffung der Europäischen Menschenrechtskonvention geführt, die das Recht auf Leben schützt, aber dem Menschen die Wahl läßt, selbst zu gehen.

"Freiheit bedeutet Irrtum - oft irreversibel"

Wie stehen Sie eigentlich zur Todesstrafe?

Minelli: Die Todesstrafe ist in Europa durch die Europäische Menschenrechtskonvention verboten.

Im Fall von Selbstmord gehen Sie davon aus, daß der Mensch über Leben und Tod entscheiden darf, warum sollte das nicht auch in der Rechtsprechung gelten?

Minelli: Die Todesstrafe ist im Falle eines Justizirrtums irreversibel.

Die Selbsttötung ist im Falle eines psychologischen Irrtums ebenfalls irreversibel.

Minelli: Unser Procedere bemüht sich außerordentlich um die Klärung der Konstanz des Sterbewunsches als auch der Frage, ob jemand urteilsfähig ist in bezug auf sein eigenes Ableben. Daß Freiheit Irrtum und damit Konsequenzen, oft auch irreversible, impliziert, ist eine Bedingung der Freiheit. Im freiheitlichen System trägt derjenige, der entscheidet, die Konsequenzen. Wir helfen ihm, diese zu bedenken.

Kritiker werfen Ihnen vor, bei einem Sterbewunsch zu bereitwillig Ja zu sagen.

Minelli: Wir erleben es vielleicht zweimal im Jahr, daß Mitglieder, die bei uns einen Antrag gestellt haben, ungeduldig werden und die Sache selbst in die Hand nehmen. Wären es mehr, müßte man feststellen, daß wir uns offenbar zu viel Zeit mit der Prüfung lassen. Käme es dagegen gar nicht vor, läge der Verdacht nahe, daß wir zu schnell handeln. Ich denke, das zeigt, wir tun das Richtige.

Auch das Liebesleid eines 18jährigen mag echt und tief sein, ebenso wie sein Wunsch, nicht mehr weiterzuleben.

Minelli: Todeswunsch aus Liebes- oder Lebensleid ist kein Privileg von 18jährigen. Wir hatten vor einiger Zeit den Fall einer über 80jährigen Dame aus Paris, die den Tod ihres Gatten nicht verwinden konnte. Im Gespräch mit unserem Arzt versprach ihr dieser, das Rezept zu schreiben, falls sich ihre Situation nach vier Monaten nicht gebessert haben sollte. Zwei Monate später rief sie an und teilte mit, sie sei darüber hinweg: "Ach, wie war ich dumm!"

Klingt eher wie ein Argument gegen Dignitas.

Minelli: Dignitas heißt mit vollem Namen "Dignitas - Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben". Deshalb beraten wir immer zuerst zum Leben hin. Paradoxerweise kann dabei das In-Aussicht-Stellen eines Rezeptes oft besser helfen als irgend etwas anderes.

Sie haben vorhin darauf hingewiesen, daß Ärzte und Pharmaindustrie im Grunde daran interessiert sind, daß Menschen krank sind. Warum sollten "Sterbehilfe"-Organisationen wie Dignitas demzufolge nicht - geradezu zwangsläufig - daran interessiert sein, daß Menschen ihr Leben beenden?

Minelli: Erstens ist Dignitas eine Non-Profit-Organisation, an die viele Mitglieder Beiträge zahlen, einfach, damit es uns gibt. Zweitens berechnet Dignitas für die Vorbereitung einer Freitod-Begleitung - und das kann auch die Vorbereitung der Möglichkeiten des Weiterlebens sein - einen Sonder-Mitgliederbeitrag. Die Zahlung ist nicht vom Tod des Mitglieds abhängig. Solange Sterbehilfe nach dem Vorbild von Dignitas organisiert ist, besteht diese Gefahr nicht.

Vielleicht besteht kein finanzielles Interesse am Ableben des Betreffenden, aber doch an der Einleitung des "Sterbehilfe"-Prozesses - denn dann wird die Gebühr fällig. Es ist also für Dignitas finanziell förderlich, Menschen im Hinblick auf eine Entscheidung pro Suizid zu beraten.

Minelli: Da irren Sie sich, das ist keineswegs für uns finanziell förderlich, weil der Sondermitgliederbeitrag, den wir für die Freitod-Begleitung erheben, im Vergleich zu unseren Kosten derart gering ist, daß an Verdienen nicht zu denken ist. Die Angriffe gegen uns, die uns eine rein wirtschaftliche Motivation unterstellen, kommen aus einer ganz verlogenen Ecke und sind daher alle völlig falsch.

 

Ludwig A. Minelli ist Gründer, Generalsekretär und Geschäftsführer des Schweizer "Sterbehilfe"-Vereins Dignitas und 1. Vorsitzender von Dignitas Deutschland, der Ende September seine erste Geschäftsstelle in der Bundesrepublik eröffnet hat. Der ehemalige Journalist und Rechtsanwalt wurde 1932 in Zürich geboren.

Dignitas Schweiz: Der 1998 von Ludwig Minelli in Forch bei Zürich gegründete private Verein bietet gegen Mitgliedsbeitrag und Gebühr nach eigenen Angaben "sterbewilligen" Menschen Beratung, Sterbebegleitung und "Behilflichkeit beim Freitod" an. Außerdem fungiert er als Lobbygruppe für die gesellschaftliche, moralische und rechtliche Enttabuisierung von Selbstmord. Die Vorwürfe gegen den Verein sind zahlreich, sie reichen von der ethischen Kritik an den Vereinszielen, über den Vorwurf "des Geschäfts mit dem Tod" bis hin zur Bezichtigung schwerer Straftaten in Zusammenhang mit der Tötung auf Verlangen. Einen rechtskräftigen Beweis für letzteres ist man allerdings bislang schuldig geblieben.

 

Foto: Proteste gegen die Eröffnung des ersten deutschen Dignitas-Büros in Hannover: "Das Christentum ist eine grauenhafte Religion, die Millionen von Menschenleben gekostet hat. - Wir dagegen müssen die Aufklärung zu Ende führen"

 

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