© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/05 28. Oktober 2005

Die Woche
Zu früh gesprungen
Fritz Schenk

Der Faktor Zeit hat in der Politik schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Zeit hat etwas mit Reife und reifen zu tun. Man kann Reifeprozesse verschlafen (Gorbatschow: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"), dann setzen sich fällige Entwicklungen oft gewaltsam und unkontrolliert durch. Aber auch Übereilen kann sich sehr nachteilig auswirken. Wir erleben jetzt das zweite Beispiel übereilten Handelns in unserer jüngeren Geschichte.

Das erste betraf den Jahresanfang 1990. Die SED war am Ende, aber noch Regierungsmacht der DDR. Viel konnte sie nicht mehr aus- oder anrichten. Den "runden Tisch" mit den Vertretern der neuen demokratischen Kräfte hatten Hans Modrow und seine Genossen unter Kontrolle. Westliche politikerfahrene Berater empfahlen den Ostberliner Demokraten, den Umgestaltungsprozeß in der DDR mit Kommunalwahlen zu beginnen, danach die Wiedereinrichtung der Länder anzugehen und die Volkskammerwahlen ans Ende des Demokratisierungsprozesses zu setzen. Dann nämlich hätten Modrow und seine SED/PDS spätestens im Frühsommer selber den Konkurs ihres Bankrottsystems verkünden müssen.

Vor allem die Ost-CDU mit Lothar de Maiziére und das Bündnis der "Allianz für Deutschland" wollten es schneller - und so übernahmen sie denn die Verantwortung für die marode DDR im März mit der Konsequenz, daß die Union bis heute im Bewußtsein vieler Mitteldeutscher als die große "Plattmacherin" angesehen wird, während sich die SED-Nachfolger als Verteidiger der Interessen der kleinen Leute aufspielen können.

Das zweite Beispiel betrifft die Gegenwart. Selbstverständlich waren Gerhard Schröder und Rot-Grün mit ihrem Latein am Ende. Das waren sie schon nach ihrer ersten Legislaturperiode. Aber allgemeine Erkenntnis war das nicht. Hätte sich die Union nicht auf den Trick mit der getürkten Vertrauensfrage eingelassen, wäre sie mit vor das Bundesverfassungsgericht gegangen und hätte Schröder gezwungen, weiterzuregieren und im Frühjahr 2006 oder zum regulären Wahltermin als eindeutiger Versager von der politischen Bildfläche zu verschwinden, stünden wir jetzt nicht vor der verfahrenen Situation unklarer Mehrheitsverhältnisse. Denn soviel zeichnet sich doch nach den ersten Runden der Koalitionsverhandlungen schon ab, daß es vor allem der SPD nicht um das Finden bestmöglicher Lösungen für Deutschland geht, sondern darum, der Union ihr Konzept aufzudrücken, um sich für die Landtagswahlen des kommenden Frühjahrs neu aufzustellen.

Nun brodelt es in der Union. Der Augsburger Kongreß der Jungen Union hat deutlich werden lassen, was auf Angela Merkel, Edmund Stoiber und die beiden Unionsparteien zukommt. Noch deutlicher wird sich zeigen, daß es der Union als vermeintliche Führungskraft in dieser Koalition kaum gelingen wird, ihr Profil in dieser Regierungszusammensetzung nach außen so zu schärfen, daß sie bei der nächsten Bundestagwahl - ob sie denn erst in vier Jahren oder früher kommt, ist dabei unerheblich - größere Zustimmung erhält als im September.

Wir würden uns gern täuschen. Das geschähe aber nur dann, wenn es die große Koalition beginnend bei der Reform des Wahlrechts über eine Große Finanzreform bis hin zur Entrümpelung des bürokratischen Molochs zu einem echten Neubeginn brächte.


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