© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/05 28. Oktober 2005

Allen Prophezeiungen zum Trotz
Patriotismus II: Der Historiker Peter Brandt rät den Deutschen, ein neues Verhältnis zu ihrer Geschichte zu entwickeln
Ekkehard Schultz

Allen Prophezeiungen vom Sterben der Nationalstaaten im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung zum Trotz: Nationen und ihr politischer, wirtschaftlicher und kultureller Überbau werden noch lange weiterexistieren, auch wenn sich durch Masseneinwanderung und starke Durchmischung der Bevölkerung ihre Gesichter geändert haben. Nationale Gefühle erleben gerade in Mittel- und Osteuropa in den vergangenen Jahren eine Renaissance. Auch westeuropäischen Staaten fehle ohne "Patriotismus" im ursprünglichen Sinne von "aktiver Hingabe für das Wohl des Vaterlandes" und der "Verbesserung des Bestehenden" etwas Entscheidendes - eine Erkenntnis, von der sich auch Deutschland kaum längerfristig abkoppeln könne. So lauteten die zentralen Thesen eines Vortrages, den der Historiker Peter Brandt, der älteste Sohn Willy Brandts, am vergangenen Mittwoch in der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam hielt. Er beleuchtete dabei die Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins und gab einen Ausblick in die Zukunft.

In der DDR habe das Nationale nie einen derartigen Bedeutungsverlust erfahren wie in Westdeutschland. Selbst SED-Mitglieder hätten die deutsche Frage als weiterhin offen betrachtet, obwohl das Vereinigungsziel in der DDR-Verfassung von 1974 gestrichen worden war. Der Versuch, sich seit Beginn der achtziger Jahre das gesamtdeutsche historische Erbe anzueignen, trug auch dazu bei, daß die offizielle Zwei-Nationen-These von einem sozialistischen und einem kapitalistischen Deutschland von der Bevölkerung in Mitteldeutschland nie in größerem Umfang angenommen wurde. Die politischen Schritte in Richtung innere Vereinigung seien nach 1989 holprig verlaufen. So sei es nicht verwunderlich, daß sich auch nach 1990 kein wesentlich stärkeres nationales Bewußtsein innerhalb der deutschen Gesellschaft entwickelt habe.

Brandt erinnerte daran, daß sich nach 1945 zahlreiche Gegner Hitlers für die Möglichkeit des dritten Weges jenseits von westlichem Liberalismus und Sowjetkommunismus ausgesprochen hatten. Sie versuchten damit, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der deutschen Frage und zur Überwindung der Spaltung des Landes zu leisten. Selbst in den Anfängen der 68er Bewegung sei die nationale Frage noch als wichtiger Gesichtspunkt betrachtet worden: Studentenführer Rudi Dutschke hatte mehrfach vom "Unglück der Teilung" gesprochen. Erst später habe sich mit der zunehmenden Verwestlichung der Bundesrepublik die Ansicht verbreitet, daß die Teilung Deutschlands eine verdiente Strafe für die Vergangenheit sei und daher nicht in Frage gestellt werden solle. Doch wer so argumentiere, müsse sich darüber im klaren sein, daß er damit eine Gegenposition zu vielen Beteiligten des antinationalsozialistischen Widerstandes einnehme, die ein klares Bekenntnis zu Gesamtdeutschland abgegeben hatten, sagte Brandt.

Zur Stärkung des nationalen Bewußtseins im heutigen Deutschland empfahl er die generelle Entwicklung eines neuen Verhältnisses zur deutschen Geschichte. Es gelte dabei vor allem, die Fülle von demokratischen und freiheitlichen Traditionen wiederzuentdecken. Wichtig sei auch das Verständnis dafür, daß dieser Schritt keineswegs eine Abkehr von den Idealen der Europäischen Union bedeute. Denn letztlich könne Deutschland in der EU nur dann langfristig eine konstruktive Rolle spielen, wenn die Problemstellungen der eigenen inneren - nationalen - Einheit effektiv gelöst werden könnten. Sollte Deutschland an dieser Frage scheitern, wären automatisch auch gravierende Nachteile für die Union zu erwarten. Scharfe Kritik übte Brandt abschließend an der immer noch von vielen deutschen Politikern vertretenen Auffassung, daß ein "Verfassungspatriotismus" den Patriotismus im Sinne der alten Wortbedeutung ersetzen könne. Ohne eine tiefere kulturelle Verankerung bleibe diese Form des Patriotismus letztlich nur ein "blutleeres Kunstprodukt", sagte Brandt.


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