© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Zugunsten sozialdemokratischer Schulutopien
Josef Kraus erkennt in der Analyse der Pisa-Ergebnisse nicht selten eine bildungspolitische Instrumentalisierung
Ellen Kositza

Bildungspolitik ist eines der Themen, die seit Jahren auf dem Dauerprüfstand stehen. An Ganztagsbeschulung, Förderstufe, Benotung, Zentralabitur und Lehrplänen erhitzen sich die Gemüter regelmäßig auch jenseits des Wechsels der jeweiligen Legislaturperioden (und oft damit einhergehenden einschneidenden Änderungen im Schulsystem) in den Bundesländern.

Einen "großen Schwindel" nennt Josef Kraus die Debatte um Pisa, jenen internationalen und bis heute fortgeführten Schülertest, dessen Ergebnisse seit 2001 in regelmäßigen Abständen für Stürme im Blätterwald sorgen. "Schwindel" definiert Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbands und Schulleiter, als zweierlei: als Täuschung (weil politisch instrumentalisiert) und Taumel, womit die psychologische Dimension der vielgescholtenen deutschen Testergebnisse bezeichnet werden soll.

Nicht gegen Tests an sich schärft Kraus seine Lanze, sondern gegen deren Inflation, gegen mangelnde repräsentative Absicherung - wie kommt es etwa, daß Länder mit deutlich höherem Analphabeten-Anteil besser als Deutschland abschnitten? - und vor allem gegen die gängigsten Interpretationschemata, die aus derlei Veröffentlichungen folgen.

Punktgenau hebelt Kraus, seit langem profilierter konservativer Kritiker des deutschen Schulsystems, jene Mythen aus, die nach dem mäßigen Abschneiden deutscher Neuntkläßler als Schlagwörter die Runde machten: Testsieger Finnland und die Einheitsschule, Japan und Korea - zweit- und drittplaziert - und die Ganztagsschule, des weiteren jene Legenden, die sich um den "Fetisch Computer" im Klassenzimmer, die angebliche Diskriminierung von Arbeiter- und Migrantenkindern und um den neuen Pragmatismus in der Bildungspolitik (Stichwort "Humanvermögen") ranken.

Beispiel Finnland: Ungezählt sind die Artikel derer, die befeuert durch das rundum hervorragende Abschneiden des kleinen Landes die Einführung einer nicht- oder spätselektierenden Gesamtschule als Gebot der Stunde herausstellten. Kraus schaut in die Tiefe: 1,2 Prozent der finnländischen Schüler haben ausländische Eltern, in Deutschland sind es über 15 Prozent. Finnland hat zudem eine ausgeprägte Lesekultur - sei es wegen der langen Abende, des Stolzes auf die tief gestaffelte Nationalliteratur oder der Tatsache, daß ausländische Spielfilme schlichtweg weder untertitelt noch synchronisiert werden. Außerdem sei die finnische Orthographie durchweg phonetisch, wogegen das Deutsche als "schwere Sprache" sprichwörtlich ist. Die finnische Durchschnittsklasse hat 18 Schüler, die deutsche 24, dort gibt es Zentralprüfungen sowie Aufnahmeprüfungen an der Hochschule, was "dynamisierend auf die gesamte Schullaufbahn" wirkt, und nicht zuletzt ist das Ansehen von Schulen und Lehrern in Finnland traditionell hoch - Umstände, von denen in Deutschland keine Rede sein kann.

Unbeachtet blieben im medienweiten "Finnland-Hype" hierzulande auch die Schattenseiten der finnischen Schulpolitik, etwa das unmäßige nationale Gefälle zwischen den einzelnen Schulen im Test, die Lernfreude der Schüler (letzter Platz unter Schülern aus 35 befragten Nationen) sowie das extrem schlechte Abschneiden von Migranten - hierbei befindet sich Deutschland übrigens, entgegen anderslautenden Unkenrufen im Mittelfeld.

Ebenso stichhaltig argumentiert Kraus gegen andere Gemeinplätze sozialdemokratischer Schulutopien. Kraus lesen, dann weitersprechen, möchte man denjenigen nahelegen, die immer noch und forciert - man denke an das vier Milliarden schwere "Bildungspaket" der SPD - die Ganztagsschule als ultimative Lösung der Erziehungsflaute betrachten oder der Reduktion der Bildungsstandards auf das Marktgängige (Niedergang des Altsprachlichen, Englisch ab Grundschule, Verbannung literarischer Klassiker) das Wort reden.

Eine ordentliche Schulpolitik mit verbindlichen Leistungsanforderungen, Zentralprüfungen und gegliederten Schulformen könnte manches möglich machen, was heute brachliegt. Doch Kraus, selbst Schulleiter sowie Deutsch- und Sportlehrer, schränkt ein: "Wer zwanzig Jahre Schulerfahrung hat, der weiß, daß er heute in keiner Jahrgangsstufe mehr das verlangen darf, was er damals verlangte, weil es sonst ein Notengemetzel gibt."

Kraus ist weder Rhetoriker noch Taktiker - was ihn an sich sympathisch macht. Das heißt aber auch, daß man aufatmet, wenn er in Zeitungsinterviews oder Rundfunkgesprächen diesem oder jenem Fettnäpfchen gerade glimpflich ausgewichen ist, daß man durchatmet, wenn er in seinem Buch manche Polemik eben nicht elegant, sondern hausbacken polternd von der Leine läßt und hier und da noch ein nicht immer nötiges Nietzsche- oder Schopenhauer-Zitat zum besten gibt. Eine Kürzung um etwa fünfzig Seiten (Wem dient eine seitenlange Auflistung von dämlichen dpa-Schlagzeilen? Wem das ausführliche Referat einer Christiansen-Sendung oder einer Bild-Ausgabe?) hätte dem Buch hervorragend angestanden - lesenswert und überaus informativ ist es allemal. 

Josef Kraus: Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können. Signum Verlag, München 2005, 247 Seiten, gebunden, 16,90 Euro


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