© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Pankraz,
das Börsenblatt und der Esel in der Requisite

Im folgenden möchte Pankraz eine Selbstanzeige plazieren, d.h. einen Hinweis auf zwei neue Bücher, die er geschrieben hat und die jetzt zur Buchmesse (in der Edition Antaios) erschienen sind. An sich "gehört" sich so etwas nicht. Autoren dürfen - so der Komment - öffentlich aus ihren Büchern vorlesen, aber für sie in Zeitungen Reklame machen dürfen sie eigentlich nicht. Das sollen sie dem Verlag und eventuellen Kritikern überlassen.

Aber immerhin: Goethe hat einst (im Morgenblatt für gebildete Stände vom September 1809) die "Wahlverwandtschaften" selbst angezeigt, und Georg Simmel tat desgleichen Oktober 1901 für seine "Philosophie des Geldes" im Börsenblatt. Natürlich will sich Pankraz nicht mit denen vergleichen, doch sie sich zum Vorbild nehmen darf er allemal.

"Die große Schauspielerin Vernunft" heißt der eine Titel, der andere "Das Böse und die Gerechten", Untertitel: "Auf der Suche nach dem ethischen Minimum". Es sind, um es gleich zu sagen, sehr schöne Bücher, anmutig und fehlerfrei gedruckt (was sich heute ja längst nicht mehr von selbst versteht), solide gebunden und mit prächtigen Umschlägen geschmückt, die auf Gemälde des exzellenten Leipziger Malers Wolfgang Mattheuer (1927-2004) zurückgehen. Mit dem verstand sich Pankraz ausgezeichnet, und die Umschläge waren gewissermaßen ein Abschiedsgeschenk von Matt.

Beide Bücher sind klar gegliedert. Über jedem Kapitel steht eine kleine, appetitanregende Zusammenfassung dessen, was folgt, der "wissenschaftliche Apparat" ist knapp gehalten, der Stil kraftvoll und witzig. Es geht jeweils um wichtige Dinge: in der "Schauspielerin" um die Herausbildung und das Wesen jenes abendländischen "Rationalismus", der West- und Mitteleuropa jahrhundertelang zur absoluten Führungsmacht in der Welt machte; im "Bösen" um die Frage, ob es für uns Menschen wirklich und erweisbar einen allgemein verbindlichen Moralkodex gibt.

Moraldebatten prägen ja den Diskurs unserer Tage. Vielerorts wird der Wunsch nach ethischer Unterweisung laut. Ärzte rufen nach einer "erweiterten Medizin-Ethik", weil ihnen der hippokratische Eid keine hinreichende moralische Orientierung mehr zu vermitteln vermag. Wirtschaftsmanager und Gewerkschafter haben sich auf die Suche nach einer "modernen Wirtschaftsethik" begeben. In den Schulen tritt der Ethik-Unterricht gleichberechtigt neben den Religionsunterricht, ersetzt ihn hier und da schon.

Demgegenüber verharrt die Politik, weit davon entfernt, sich von den zerreißenden Ideologemen und Weltanschauungskriegen des zwanzigsten Jahrhunderts zu verabschieden, weiter in absoluten Feindbildern. Bestimmte Staaten, Bündnisse oder Regierungsformen werden zu Inkarnationen des Bösen erklärt und zur Bekämpfung "mit allen Mitteln" freigegeben. Aus dem Dunkel schlägt der internationale Bombenterror zu, fordert unzählige unschuldige Opfer und beansprucht gleichwohl religiöse und moralische Dignität. Alle Grautöne verblassen oder färben sich kräftig ein. Es geht immer weniger um ein Sowohl-Als-auch, bald nur noch um ein schneidendes Entweder-Oder.

Die neuen Bücher von Pankraz widersetzen sich solchem Ausschließlichkeitsdenken. Sie wenden sich gleichermaßen gegen abendländischen Hochmut wie gegen abendländischen Kleinmut. Differenz und anthropologische Gemeinsamkeit der Kulturen geraten ebenso in den Blick wie die von keinem Volk je preisgegebene, am Anfang faktisch vollständige Übereinstimmung von moralischem Sinn und spontaner Religiosität. Die ständige Anwesenheit des moralisch-religiösen Sinns bei scheinbar automatischen Alltagsentscheidungen wird ebenso untersucht wie der Moralanspruch politischer Kriegserklärungen und sonstiger Staatsaktionen.

Schließlich werden auch jene Grenzsituationen angeleuchtet, wo keine Entscheidung, weder für das Gute noch für das Böse, mehr möglich ist und die Moral ins pure Paradox ihrer selbst einmündet, so daß es keine seriöse ethische Wegweisung mehr geben kann. Derlei Lagen sind verzweiflungsvoll, desavouieren die Moral im ganzen jedoch nicht, weil sie die Lebenswelt insgesamt übersteigen und so ihre Unzuständigkeit für die Bestimmung eines ethischen Minimums erweisen. Es gibt, so kommt heraus, dieses ethische Minimum, an das sich jeder halten kann und auch halten muß. Der Mensch ist nicht nur ein essendes, handelndes und denkendes, sondern vor allem auch ein moralisches Wesen.

Jedes Vernunftkalkül und jedes vernunftgeleitete Handeln muß darauf Rücksicht nehmen, wenn es nicht über kurz oder lang in sein Gegenteil umschlagen will. Vernunft wird Wahnsinn, Wohltat Plage, sobald der moralische Sinn erlischt. Das lehrt nicht zuletzt die Geschichte des Abendlands seit der frühen Neuzeit, deren vorrangig auf Machterringung und Daseins-"Bewältigung" ausgerichteter Vernunftstil streckenweise schrecklich in die Irre gegangen ist und zu apokalyptischen Verheerungen geführt hat.

Zum Schluß nun aber eine zünftige Entwarnung: Kein Leser der neuen Bücher von Pankraz muß fürchten, aufgrund ihrer ernsten, teils hochdramatischen Thematik mit öligen Moralpredigten oder gar mit Bußpredigten behelligt zu werden. Der Ton ist überwiegend kalt "cool", steigert sich manchmal ins bunt Bänkelsängerische, wenn etwa die wechselnden Verbildlichungen des Teufels im Laufe der Zeiten vorgeführt werden oder hinter die Kulissen des Barocktheaters geblickt wird, vor denen die Galilei, Descartes et cetera ihre Vernunftpredigten inszenierten.

"Das tragische Ende eines Unerkannten", heißt das Gemälde von Mattheuer, das den Band über die große Schauspielerin Vernunft ziert. Zu sehen ist eine gigantische Eselsmaske, die von ihrem Träger gerade abgelegt wird. Gebe Gott, daß alle mächtigen Esel so enden: als Masken, die in der Requisite verschwinden.


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