© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Ohne Pardon
Milizen in Oberschlesien
Dieter J. Perthes, Neuwied-Rodenbach

Der Morgen des 30. August 1945 versprach einen schönen, warmen Sommertag, als in die ruhige Reihenhaussiedlung in Gleiwitz-Petersdorf ein Lastwagen rumpelte. Heraus sprangen uniformierte Männer mit merkwürdigen Mützen auf dem Kopf. Russen waren das nicht, die waren bereits seit einigen Wochen durchgezogen.

Russen kamen einzeln, zu Fuß, mehr oder weniger torkelnd, zum Teil nur halb bekleidet. In der linken Hand oft eine Flasche, in der rechten eine Pistole, drangen sie in die Häuser ein. Mit den Russen, obwohl sie nicht harmlos waren, war die Mutter jedoch fertig geworden. Den alten Unger von gegenüber hatten sie erschossen, weil er behauptete, keinen Schnaps zu haben und dann doch welcher gefunden wurde. Vor den Russen waren die beiden ältesten, bereits erwachsenen Schwestern schon Anfang des Jahres in die - vermeintliche - Sicherheit des Westens geflohen. Jetzt galt es, das mühsam erarbeitete Haus zu verteidigen.

Die Männer, die jetzt kamen, torkelten nicht. Sie hatten Listen dabei und durchkämmten Haus für Haus: polnische Miliz. Alle heraus aus den Häusern und auf den Lastwagen, lautete ihr Befehl. Die Mutter kam gerade aus dem Hühnerstall im hinteren Teil des Gartens, bekleidet über dem Pyjama mit einem alten, schäbigen Mantel mit Pelzkragen, dem von uns so genannten Hühnermantel. Furcht vor den Milizmännern empfand sie nicht, da sie Polnisch beherrschte.

Diskussionen waren aber zwecklos. Kleiderwechsel? Nein! Die Abfahrt verzögerte sich nur, weil die elfjährige Schwester sich versteckt hatte und erst gefunden werden mußte. Woran die Mutter in diesen Augenblicken wahrscheinlich nicht dachte, war der Schuhkarton mit all den Urkunden, Dokumenten, Policen usw., den sie, als die Russen kamen, an unzugänglicher Stelle unter dem Dach versteckt hatte. Auf jeden Fall war es jetzt zu spät dafür. Daß dieser unwürdige Abtransport mit nichts als dem, was man gerade auf dem Leib trug, ein Abschied für immer sein sollte - unvorstellbar. Ohne Papiere aber waren wir, wie sich sehr bald zeigte, bei Null, ein Nichts.

Das Lager, in das man uns brachte, kann nicht weit gewesen sein, denn die Fahrt war kurz. In großen Zelten hatte man Strohsäcke reihenweise auf den Boden gelegt - unser Zuhause für die nächsten beiden Wochen. Schon nach wenigen Tagen, als es zu regnen begann, ergaben sich unerträgliche Zustände. Zu essen gab es Brot, das zum größten Teil aus einem verschimmelten Mittelteil bestand. Vor allem die kleinen Kinder litten. Es gab die ersten Toten. Mitte September 1945 wurden wir, meine Mutter, meine elfjährige Schwester und ich, dann endgültig abtransportiert, mit tausenden anderen in einem Zug aus Viehwaggons. Die meisten der kleinen Kinder starben auf dieser Fahrt. Auch mich hatte meine Mutter schon aufgegeben.

Immer wieder stand der Todeszug, um dann auf dem maroden Schienennetz ein wenig weiterzurucken. Einmal fuhren wir ganz langsam und nicht enden wollend über ein gurgelndes Gewässer. Wasser spritzte in die Waggons, die Menschen schrieen vor Todesangst. Später erfuhr ich: Wir hatten die Hochwasser führende Oder überquert. Man hatte den nackten, nur durch die Schwellen zusammengehaltenen Schienenstrang ohne Sicherung auf behelfsmäßige Stützen gelegt, wo früher eine Brücke war. Mit der Ankunft westlich der Oder war das Vertriebenenschicksal aber noch nicht beendet - im Gegenteil. Es begann eine weitere, jahrelange Schreckenszeit.


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