© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Zwanzig Minuten Zeit
Vertreibung in der Neumark
Günter Knappe, Berlin

Durch unseren kleinen Ort in der Neumark fuhren Mitte Juni 1945 sowjetische Lastwagen mit deutschen Kriegsgefangenen auf der Ladefläche. Diese hatten für meine Mutter einen Zettel auf die Straße geworfen: "Ihr Mann lebt, ist krank im Gefangenen-Lazarett Frankfurt/Oder". Meine Mutter war nicht mehr zu halten. Als blinde Passagiere in Güterwagen fuhren wir per Bahn Richtung Frankfurt.

Auf dem Hof der Lazarett-Kaserne hockten Gefangene an primitiven Feuerstellen und kochten. Einige näherten sich in ihren Militärunterhosen bis an den Stacheldraht, als wir den Namen meines Vaters riefen. Meinen Vater kannte aber niemand. Es kamen aber viele Menschen mit Rucksäcken, beladenen Handwagen oder Kinderwagen von Osten her über die Oderbrücke. Sie waren aus ihren Orten vertrieben worden , wußten aber nicht, wer alles betroffen war.

Voller Angst wollte meine Mutter mit mir nach Hause. Ab Reppen fuhren wir auf einem Kesselwagen mit, meine Mutter auf der vorderen und ich - 13 Jahre alt - auf der hinteren Leiter. Der Lok-Führer, ein Deutscher, hatte uns versprochen, langsam durch Topper zu fahren, um vom Zug zu springen. Der Bahnhof in Topper war menschenleer, das nächste Dorf ebenfalls - alle Haustüren standen offen. Im Heimatort angekommen, bot sich dasselbe Bild. Mit einem Bettsack und zusammengerafften Sachen in einem Waschkorb und zwei Rucksäcken als Gepäck flüchteten wir umgehend. Eine Kutsche mit Polen kam und man schrie "Deutsche raus", ließ uns aber sonst unbehelligt.

Fast am Ortsausgang sahen wir einen älteren Mann, einen Bäcker, der bleiben mußte. Hier konnten wir uns ausruhen. Ich fand einen Handwagen mit zerbrochenem Rad, flickte dieses, und am anderen Morgen zogen wir nach Topper, zusammen mit einer beim Bäcker gebliebenen Frau, die nun auch weg wollte. Bald brach das Wagenrad wieder; ich hielt die Achse hoch, mit einem Strick über der Schulter, die beiden Frauen zogen den Wagen. Schließlich entdeckten wir einen Pflug am Feldrand. Dessen Eisenrad war schwer auf der Handwagenachse zu halten, doch der Wagen rollte nun wieder. Nach kurzer Zeit überfielen uns drei Polen, fanden aber nur wenig Eßbares in unserem Gepäck.

Den Bahnhof Topper schon fast im Auge, lagen wir erschöpft am Straßenrand. Ein russischer Offizier brachte uns einen Topf mit Wasser und eine geöffnete Büchse Corned beef aus den USA. Wir hatten wohl ein erbärmliches Bild abgegeben, und ihm genügte ein dankbarer Blick. Die Nacht verbrachten wir zusammen mit anderen Leuten auf einem Güterwaggon, der bis zur Weiterfahrt am nächsten Tag auf einem Abstellgleis stand.

Als wir schließlich in Frankfurt angekommen waren, sahen wir Kolonnen vertriebener Menschen über die Oderbrücke kommen. Am nächsten Tag kamen Leute aus unserem Ort. Am 24. Juni frühmorgens hatte man sie durch Schläge an die Haustüren geweckt. "In zwanzig Minuten raus", hatte man geschrieen. Vereint standen wir nun ratlos in Frankfurt. Es folgten drei Monate erbärmlichen Hungers. Unerwartet tauchte mein Vater auf; elend, abgemagert, zerlumpt. Er war nach Hause entlassen worden und hatte uns tatsächlich gefunden." Doch wo war zu Hause?


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