© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Im letzten Zug
Flucht aus Ostpreußen
Gerhard Fröhlich, Großenkneten-Huntlosen

Der Krieg hatte unsere Familie in drei Teile zerrissen. Mein Vater stand als Soldat an der Ostfront, meine Mutter und die beiden jüngeren Geschwister bewirtschafteten allein den Hof, ich stand in unserer masurischen Kreisstadt Lyck in der kaufmännischen Lehre. Zu Beginn unserer Lehre waren wir sechs, zuletzt nur noch zwei, die Jüngsten. Die anderen wurden zur Wehrmacht eingezogen, oder zur Heimatflak.

Am Montag, dem 22. Januar 1945, morgens, ließ uns unser Lehrherr zu sich kommen und erklärte, es wäre höchste Zeit, die Flucht anzutreten. Wir könnten auf seinen Rollwagen steigen, oder aber uns auf eigene Faust durchschlagen.

Wir schauten uns an und hatten beide nur einen Gedanken: Nicht mitfahren. Wir ahnten: Mit diesen vollbepackten Wagen und den dicken Pferden kommt unser Chef auf vereisten und verstopften Straßen nicht weit. Die russischen Panzer werden ihn bald einholen. Wir erbaten uns freies Geleit, was sich später als unsere Rettung erweisen sollte. Schnell rafften wir Handgepäck zusammen. Mein einziger Mantel, den ich besaß, war ein Reichsarbeitsdienstmantel.

Nach langem Warten bei Schnee und grimmiger Kälte inmitten einer Menschenwolke auf dem Lycker Bahnhof, wurde endlich ein leerer Personenzug auf ein Nebengleis geschoben. Sofort erfolgte der Sturm auf den Zug. Es war der letzte Zug, der von den Bahnbediensteten abgefertigt wurde. Danach stiegen auch sie in den Zug ein und die Fahrt begann. Draußen herrschte dunkle Nacht.

Es war wie ein Wunder. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Rastenburg ging es weiter in Richtung Königsberg. Von dort ging es weiter ins samländische Fischhausen, wo wir eine Woche in einer mit Stroh ausgelegten Turnhalle zubrachten. Sie war überfüllt mit Flüchtlingen. Eines Nachts gab es eine fürchterliche Detonation, die Erde bebte, die Lichter gingen an. Wie sich später herausstellte, war ein Depot mit Seeminen in die Luft geflogen - im zwölf Kilometer entfernten Pillau. Das ganz Fort war ein riesiger Trümmerhaufen.

Eine Woche später wurden wir nach Pillau gebracht. Diese Hafenstadt wurde für Hunderttausende zum Tor in die Freiheit. Hier leisteten Schiffe der Kriegs- und Handelsmarine Großartiges. Auch für uns zwei sollte der Seeweg zum Rettungsweg werden. Aber den Vorzug, auf ein Schiff zu kommen, hatten nur Frauen mit Kindern und alte Leute. Uns zwei hat man immer weggeschubst. Wir waren schon keine richtigen Kinder mehr, aber auch nicht so richtig erwachsen. Nachts wurden wir durch die Feldgendarmerie unsanft geweckt. Wir mußten schlaftrunken strammstehen und wurden mit grimmigen Blicken taxiert, ob wir für den Volkssturm tauglich wären.

Freund Horst und ich beschlossen darauf, uns von der Masse der Flüchtlinge zu lösen. Das war unsere Rettung. Zum Glück hatte uns unser Chef mehre Schachteln Zigaretten und Tabak auf den Weg gegeben. Wir selbst rauchten nicht. Wir steckten einem gelangweilten Matrosen am Kai diese seltenen "Köstlichkeiten" zu, der uns dann flugs im Schiffsinnern "verstaute", tief unten, im Maschinenraum. Es war ein kleiner Hochseeschlepper. Kein lohnendes Ziel für sowjetische Torpedos und Flieger. Nach uns waren noch Hunderte Flüchtlinge und verwundeter Soldaten an Bord genommen worden. Im Morgengrauen legten wir in Gotenhafen (Gdingen) an. Hier verschmolzen wir wieder mit der Masse der Flüchtlinge und kamen in eine Sammelstelle. Nach zwei Wochen hieß es: "Rette sich wer kann, die Russen stehen vor Gotenhafen!" Nun kam Hektik auf, und ein weiteres Wunder geschah. Denn in den nächsten drei Tagen legten wir die Strecke Gotenhafen bis Stettin zurück und kamen mit heiler Haut davon.

Wir schlichen uns nachts auf Bahnhöfen in Güterzüge hinein. Bevorzugt besetzten wir die Bremserhäuschen, die leider glaslose Fensteröffnungen besaßen, so daß es während der Fahrt sehr kalt war. Unsere Essensvorräte waren zur Neige gegangen. Ausgehungert und halb erfroren verließen wir einen Zug, der in Köslin Endstation hatte. Auf dem Bahnsteig mopste ich eine Dauerwurst. Es lag ein großer Stapel davon auf einer Zeltplane. Nur wenige Meter weiter lag eine alte Frau tot unter einer Laterne. Bald schlichen wir uns in den nächsten Güterzug und erreichten tags darauf Stettin.

Hier waren wir in Sicherheit. Die deutsche Front in Hinterpommern - zur Freihaltung der Fluchtwege entlang der Küste - hielt noch. Wenn wir nachts aus dem Zug in Richtung Süden schauten, so sahen wir die Explosionen und den Feuerschein der Kämpfe. Am 27. Februar kamen wir bei meiner Tante in Friedrichsthal bei Oranienburg an. Wir waren in all den Wochen unserer Flucht einem "inneren Kompaß" gefolgt. Wir bekamen ein seltenes Gespür für das richtige Tun. Der Glaube sagt mir jedoch: Gott hatte seine Hand im Spiel.


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