© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Deutschland bewältigt, beim Nachbarn wird gefeiert
"Österreich ist frei": Vor fünfzig Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet / Mehr als 150.000 Besucher bei Ausstellung auf der Schallaburg
Ekkehard Schultz

Im Gegensatz zu Deutschland, wo in diesem Jahr eine Fixierung auf das Kriegsende stattfindet, steht im Mittelpunkt des offiziellen Gedenkens in Österreich der fünfzigste Jahrestag des Abschlusses jenes Vertrages, welcher die Alpenrepublik einerseits als neutrales Staatswesen verpflichtete, andererseits den Abzug aller Besatzungsmächte und die Erlangung der Souveränität ermöglichte. "Österreich ist frei": Der Ausruf des damaligen Außenministers Leopold Figl vor der jubelnden Wiener Bevölkerung vom Balkon des Schlosses Belvedere wurde gleichfalls zum Motto der aktuellen Präsentation auf der Schallaburg, einem der schönsten Renaissanceschlösser nördlich der Alpen, etwa 80 Kilometer westlich der Hauptstadt gelegen.

Die Präsentation nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Darstellung der letzten Kriegsmonate. Im März 1944 gab Hitler den Befehl zum Bau des "Südostwalls", der von der Donau bis zur Untersteiermark den Vormarsch der Roten Armee stoppen sollte. Der "Schutzwall" hielt ein Jahr: Am 29. März 1945 überschritten die ersten alliierten Verbände die heutige österreichische Grenze im mittleren Burgenland. In der zweiten Aprilwoche tobte die Schlacht um Wien, die schließlich am 13. April zugunsten der Russen entschieden wurde.

Seit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurde sich die Frage gestellt, wie man nach Kriegsende mit Österreich verfahren werde. Stalin war erstmals im Spätsommer 1941 für eine Wiederherstellung Österreichs eingetreten, von der er sich eine nachhaltige Schwächung des Deutschen Reiches versprach. Der amerikanische Präsident Roosevelt konnte sich vorstellen, Österreich komplett dem sowjetischen Einflußbereich einzugliedern, während Churchill eine Staatenkonföderation des Donauraumes bevorzugte, die aus Süddeutschland, Österreich und Ungarn bestehen sollte. Letztlich setzte jedoch der sowjetische Diktator seine Vorstellungen durch.

Der Mythos von der "Opferrolle" Österreichs

Im Oktober 1943 erklärten alle drei Alliierten in der Moskauer Deklaration die Wiedererrichtung Österreichs als Ziel: "Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, daß Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und nichtig."

Damit war der Mythos von der "Opferrolle" Österreichs begründet. Am 10. April 1945 wurde diese These von der Sowjetregierung präzisiert: "Im Gegensatz zu den Deutschen in Deutschland widersetzt sich die Bevölkerung Österreichs der von den Deutschen durchgeführten Evakuierung. Sie bleibt an ihren Plätzen und begrüßt die Rote Armee herzlich als Befreierin Österreichs vom Joch der Hitlerfaschisten." Weiter hieß es in der Erklärung: "Die Sowjetregierung hat nicht das Ziel, sich irgendeinen Teil des österreichischen Territoriums anzueignen oder die gesellschaftliche Ordnung Österreichs zu ändern."

Trotz des Leitsatzes der Alliierten, daß die Bevölkerung Österreichs "gut, aber distanziert behandelt werden" sollte, kam es im sowjetisch besetzten Gebiet zu zahlreichen Vergewaltigungen, Plünderungs- und Raubakten; etwa 2.000 Zivilisten wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht verschleppt.

Etwa drei Millionen "Displaced Persons" sowie Flüchtlinge befanden sich bei Kriegsende auf dem Territorium Österreichs: ehemalige Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, ferner Südtiroler und Volksdeutsche sowie Soldaten verschiedener Truppen, darunter Ustascha- und Wlassow-Kämpfer sowie Kosaken.

In den Sommermonaten 1945 gelangten durch gewaltsame Vertreibungen - darunter der berüchtigte Brünner Todesmarsch - rund 150.000 Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei sowie zahlreiche Deutsche aus Südosteuropa nach Österreich. Viele starben aufgrund der ungenügenden Unterbringungsmöglichkeiten, Entkräftung sowie der Schrecken der Märsche auch noch, nachdem sie es auf österreichisches Territorium geschafft hatten.

Unter solchen Bedingungen fiel ein planmäßiger Aufbau schwer. Mit Zustimmung der Russen wird zwischen dem 20. und 23. April 1945 von Karl Renner, einem alten Sozialdemokraten und dem ersten Kanzler der Ersten Republik von 1918, eine "Provisorische österreichische Staatsregierung" aus Vertretern der wieder- bzw. neugegründeten Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ gebildet, die jedoch zunächst nur von den Sowjets, am 20. Oktober 1945 auch von den westlichen Besatzungsmächten anerkannt wird. Bereits am 27. April erfolgte die Unabhängigkeitserklärung, am 1. Mai wird die Bundesverfassung von 1920/1929 wieder in Kraft gesetzt.

Ähnlich wie in Deutschland gab es in Österreich (NS-Opfer zwischen 1938 und 1945: rund 65.000 Juden; 2.700 Widerständler sowie 30.000 Euthanasie-Opfer) eine Entnazifizierung: Während höhere ehemalige NS-Funktionäre und Kriegsverbrecher zunächst in Entnazifizierungslagern interniert (u.a. in Glasenbach, Wolfsbach) und direkt von diesen vor Militärgerichte gestellt und verurteilt wurden, erfolgte die Masse der Verurteilungen durch sogenannte österreichische Volksgerichte.

Bis 1955 wurden insgesamt in Österreich 28.000 Anklagen erhoben, die überwiegende Zahl jedoch lediglich wegen der "illegalen" Betätigung der Betroffenen für die NSDAP in der Ständezeit (insgesamt waren über 600.000 Österreicher NSDAP-Mitglieder, davon ca. 100.000 Illegale während der Ständezeit) oder wegen falscher Angaben bei der Registrierung. Nur 600 Verfahren erfolgten wegen Tötungsdelikten. 43 endeten mit Todesurteilen, von denen 30 vollstreckt wurden; elf wurden in Haftstrafen umgewandelt, zwei Verurteilte begingen Selbstmord.

Rasche Wiedergewinnung des Nationalgefühls

Parallelen zu Deutschland weist auch die politische Umerziehung ("reeducation") in den Nachkriegsjahren auf, die jede Besatzungsmacht durch eigene Kulturprogramme betrieb. Diese sollten auch der raschen Wiedergewinnung eines eigenen österreichischen Nationalgefühls dienen. So hatte etwa der Wiederaufbau des Daches und des Chorgestühls des Wiener Stephansdomes durch Geldsammlungen und viele freiwillige Helfer aus ganz Österreich Symbolkraft.

Zur Kultur- zählte auch die Schulpolitik, für die in der Provisorischen Regierung zunächst der Kommunist Ernst Fischer verantwortlich war. Viele Lehrer wurden wegen ihrer NS-Vergangenheit aus dem Schuldienst entlassen und bis zur Genehmigung neuer Bücher durch die Besatzungsmächte das Unterrichtsmaterial der Ersten Republik verwendet. Die Absicht, sich von Deutschland abzugrenzen, zeigte schon bald kuriose Züge: So wurde für das Fach "Deutsche Sprache und Literatur" die Bezeichnung "Unterrichtssprache" eingeführt, die sich noch lange halten sollte.

Zur Festigung der Demokratie trägt der langsame, aber stetige ökonomische Aufschwung bei. Bereits kurz nach der Besatzung wurde die Bevölkerung mit privaten Hilfslieferungen aus den USA, Kanada, Großbritannien, Schweden, Dänemark, Irland, Portugal und der Schweiz versorgt. Von 1945 bis 1952 erhielt Österreich Auslandshilfen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar, pro Kopf die zweithöchste Zuweisung aller europäischen Länder, nur von den deutschen Westzonen noch übertroffen.

Dennoch entwickelte sich aufgrund der heterogenen Bestrebungen der Besatzungsmächte die Wirtschaft - vergleichbar der in Deutschland - auseinander: Im Osten Österreichs wurde durch die Sowjets im Herbst 1945 auf der Basis der Potsdamer Beschlüsse das sogenannte "deutsche Eigentum" (u.a. Erdölindustie, Donauschiffahrtsgesellschaft) beschlagnahmt und in der Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich zusammengefaßt. 1952 existieren 436 wichtige Unternehmen, die unter sowjetischer Verwaltung stehen. Nach der Rückgabe dieser Betriebe durch die Sowjets müssen die meisten wegen ihres rücksichtslosen Abwirtschaftens für immer geschlossen werden.

Ende September 1950 erschüttert eine Streikbewegung vor allem Ostösterreich und Wien. Der Generalstreik vom 4. bis 5. Oktober 1950 nimmt putschartige Formen an und es kommt zu Straßenkämpfen. Doch die Regierung (Figl, Schärf, Helmer) und der Österreichische Gewerkschaftsbund erkennen diese Gefahr schnell und verhindern durch eine entschlossene Haltung einen Umsturz. Im Gegensatz zu anderen von der sowjetischen Armee besetzten Staaten wagen die Russen nicht, zugunsten der Kommunisten einzugreifen. Von nun an verliert die KPÖ endgültig an Einfluß und wird zur Splitterpartei.

Bereits im Jahre 1947 wurden die Staatsvertragsverhandlungen in London aufgenommen. 1949 glückt auf der Konferenz des Rates der Außenminister in Paris eine Einigung über die Frage der umstrittenen Südgrenze, da Stalin die Gebietsansprüche des nunmehr abtrünnigen Tito nicht weiter unterstützt. Das neue Österreich soll die Grenzen von 1937 umfassen. Ebenso erfolgt eine Einigung in der Hauptfrage: Die Sowjets erklären sich bereit, daß Österreich das von ihnen beschlagnahmte "deutsche Eigentum" erwerben kann. Doch an der Höhe der Ablösungssumme scheitern die Verhandlungen.

Erst nach dem Tode Stalins im März 1953 erklärt sich die Sowjetunion bereit, erneut über den Staatsvertrag zu verhandeln. 1954 lehnt Außenminister Figl den verlockenden Vorschlag der Sowjets ab, gegen die sofortige Unterzeichnung eines Vertrages ein symbolisches ausländisches Truppenkontingent auf österreichischem Territorium zu belassen. Erst eine Rede Molotows vor dem Obersten Sowjet am 8. Februar 1955 bringt die entscheidende Wende in den Verhandlungen. Am 11. April 1955 trifft die österreichische Delegation in Moskau ein. Dort glückt es, die Neutralität nach Schweizer Muster festzulegen. Dies bedeutet unter anderem, daß Österreich auf den Anschluß an Militärbündnisse verzichtet und auch ausländischen Mächten keine Stützpunkte zur Verfügung stellt.

Doch noch sind einige Punkte umstritten: So wird auf der Botschafter- und Außenministerkonferenz der vier Besatzungsmächte Anfang Mai 1955 in Wien weiter hart über Ansprüche der westlichen Ölfirmen auf die Erdölfelder und die Forderung der Sowjets nach nachträglicher Abgeltung der Lebensmittelspenden von 1945 verhandelt. Besonders wichtig für die kommende Entwicklung Österreichs wird, daß es Außenminister Figl gelingt, die vorgesehene Mitverantwortungsklausel Österreichs für den Zweiten Weltkrieg aus der Vertragspräambel zu streichen.

Mitverantwortungsklausel wurde gestrichen

Am 15. Mai 1955 wird schließlich der Staatsvertrag im Wiener Schloß Belvedere von den Außenministern John Foster Dulles (USA), Harold Macmillan (Großbritannien), Antoine Pinay (Frankreich) und Wjatscheslaw Molotow (Sowjetunion) sowie Leopold Figl (Österreich) unterzeichnet.

In der Jubiläumsausstellung ist eine kurzweilige Zusammenfassung der wesentlichen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Leitlinien der Jahre 1945 bis 1955 geglückt, die packend und ansprechend wirkt. Der Besucher folgt zunächst einem sehr engen Gang, der sich kontinuierlich erweitert, was gleichzeitig die Entwicklung der Handlungsspielräume der österreichischen Politik symbolisiert. Die Gestaltung mit Hilfe von Tafeln wird durch über 1.000 Leihgaben der Jahre 1945 bis 1955 aus ganz Österreich, Dokumente aus russischen, amerikanischen und britischen Archiven sowie durch Filme ergänzt.

Über die historischen Sachverhalte hinaus bietet die Ausstellung gerade mit Bezug auf das deutsche Bewältigungsjahr 1945 Anlaß, über den Begriff von staatlicher Freiheit näher nachzudenken. Im Gegensatz zu Österreich konnte weder die von den Sowjets besetzte Zone noch das Adenauer-Regime trotz aller Beteuerungen den tatsächlichen Gehalt des Begriffes auch nur annähernd zum Leben erwecken.

Foto: Leopold Figl mit dem unterzeichneten Staatsvertrag auf dem Balkon von Schloß Belvedere: Die Wiener Bevölkerung jubelte

Foto: Hilfslieferung: Österreicher mit einem Care-Paket der US-Amerikaner

Die Ausstellung "Österreich ist frei: Der österreichische Staatsvertrag 1955" auf Schloß Schallaburg ist noch bis zum 1. November täglich von 9 bis 17 Uhr, Sa./So. bis 18 Uhr zu sehen. Tel. 00 43 / 27 54 / 63 17, Internet: www.schallaburg.at 

Zur Ausstellung ist ein reich bebilderter Katalog erschienen, der 28 Euro kostet.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen